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Von Dirk Becker: Abschied

Die letzte Chaplinade im Nikolaisaal

Stand:

Er bleibt unschlagbar. Er kann 15 oder 20 Mal versuchen, eine Treppe hinaufzusteigen und liefert mit jedem gescheiterten Versuch eine neue Überraschung. Andere würden sich schon beim fünften Mal lächerlich machen, ihm würde man zu gern noch weitere zehn Mal dabei zuschauen. Er macht die idiotischsten Sachen, aber in der Art des liebenswürdigen Trottels, der einfach zu gut ist für diese Welt. Sein fragender, leicht verlegen wirkender, oft trauriger, aber immer auch verschmitzter Blick genügt und wir schließen diesen Kerl wieder aufs Neue in unsere Herzen. Denn egal, was er tut, dieser kleine Mann dort auf der Leinwand in seinen Stummfilmen bleibt immer grundehrlich und hat immer ein reines Herz.

Es hieß Abschied nehmen von diesem kleinen Mann. Ein letztes Mal Charlie Chaplin auf der Leinwand im fast ausverkauften Nikolaisaal. „Chaplinade IV – Das große Finale“ war der Abend mit dem ungeschlagenen Meister und dem Deutschen Filmorchester Babelsberg unter der Leitung von Helmut Imig überschrieben. Vier Auftritte hatte Chaplin in seinem unverwechselbaren Kostüm in der Reihe „Vom Kino zum Konzertsaal“. Seinen letzten am Samstag. Und der wurde zu einem Finale nach Maß.

Chaplins erster filmischer Auftritt an diesem Abend: „Kid Auto Race at Venice“ (1914), in dem er die von ihm geschaffene Figur des Tramp mit ausgebeulter Hose, zu großen Schuhen, zu engem Frack und zu kleiner Melone sehr aufdringlich agieren lässt. Chaplin, der mit der Figur des Tramp untrennbar verschmolzen ist, zieht es in „Kid Auto Race at Venice“ zwanghaft vor die Kamera. Während die Kameraleute das Seifenkistenrennen filmen wollen, stellt sich Chaplin immer wieder ins Bild. Unauffällig sieht anders aus und so provoziert sein Verhalten neben grobem Geschubse auch die berühmten Tritte in das Hinterteil. Zur Hochform lief Chaplin dann in „Police“ und „One A.M.“ auf, die beide 1916 entstanden: In „Police“ der berühmte Tramp, der trotz widrigster Umstände das Herz am rechten Platz hat, in „One A.M.“ der reiche Herr nach durchzechter Nacht, der auf dem Weg in sein Bett mit allerlei Widrigkeiten im eigenen, durch den Alkoholnebel auf einmal so fremden Heim zu tun hat. Da feuert Chaplin ein Feuerwerk an Slapstick, Akrobatik und Überraschungen ab, das mit seinem geringen Aufwand kaum zu überbieten ist.

Musikalisch duldete Chaplin, der selbst Cello und Violine spielte und komponierte, keine Konkurrenz zu seinen Filmen. Der Humor musste allein durch den Schauspieler getragen werden und nicht noch durch musikalische Mittel verstärkt werden. Die Babelsberger beherzigten das, gaben bewusst besonnen und akzentuiert den Hintergrund zu Chaplins Eskapaden. Bei dem Film „Police“ dann nur der Pianist Stefan Haberfeld und Andreas Schmeißer, die das filmische Treiben mit Improvisationen begleiteten, die oft genug ihren eigenen Reiz entfalteten und kurzzeitig die ganze Aufmerksamkeit auf sich zogen. Den Rahmen für die Chaplinade bildeten zwei Kompositionen vom Meister persönlich. Am Anfang eine Ouvertüre, in der Chaplin den Slapstick musikalisch wiedergibt, am Ende mit „There is always one you can’t forget“, ein von Dirigent Imig für Streicher arrangiertes Cellosolo. Beide Stücke haben vor allem eines deutlich gemacht: Chaplin wusste, warum er den Traum von einer Karriere als Musiker aufgab und sich für die Schauspielerei entschied. Denn als Schauspieler ist Chaplin auch heute noch unschlagbar.

Dirk Becker

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