
© Courtesy KOW Berlin
Kultur: Abweichung und Norm
Der Brandenburgische Kunstverein zeigt auf der Freundschaftsinsel Außenseiterpositionen im Film
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Buster Keaton rennt. Mit steinerner Miene versucht er den „Cops“ zu entkommen, die sich an seine Fersen geheftet haben. Eigentlich wollte er nur seiner Angebeteten imponieren, aber nun sind Hunderte von Polizisten hinter ihm her und wollen ihn einbuchten. Der „Mann der niemals lachte“ hatte in dem großartigen Stummfilm „Cops“ keine Chance. Häufig spielte Keaton Außenseiter, die sich ihrer Abweichung von der gesellschaftlichen Norm nicht bewusst waren. So stolperten seine Filmfiguren von einem Unglück ins nächste, was leider auch für das Leben des älteren Buster Keaton gilt.
Außenseiter und die Abweichung von der Norm ist das Thema der aktuellen Ausstellung des Brandenburgischen Kunstvereins Potsdam (BKV) im Pavillon auf der Freundschaftsinsel. „Wie wird uns eigentlich die Gewissheit darüber vermittelt, was richtig und normal ist?“ fragt der Kurator Jonathan Pouthier. Während eines längeren Aufenthaltes in Berlin ist der Filmwissenschaftler auf das Buch „Outsider“ des Kriminalsoziologen Howard S. Becker aus dem Jahr 1963 gestoßen. Das Buch beschäftigte Pouthier und war der Anlass auch im Film nach Außenseiterpositionen zu suchen. Der Franzose fand zahlreiche frühe Versuche, mit den Mitteln des Films Perspektiven abseits der Norm zu entdecken. „Abweichendes Verhalten ist das Verhalten, das Menschen so bezeichnen“, stellt Becker fest. Immer gebe es die große Gruppe, in der sich ein bestimmter Kodex herausbilde, der dann festlege, welche Regeln gelten. „Es eröffnen sich uns viele Möglichkeiten, wenn wir Regeln neu erfinden “, sagt Pouthier. Im Raum des BKV zeigt er eine spannende Zusammenstellung seiner Recherche.
Im Experimentalfilm der 60er und 70er Jahre hat der junge Franzose einen frühen Spiegel von Szenen und Kulturen entdeckt, die sich damals neu artikulierten. Damit die Filme auch gesehen werden können, hat der Kunstverein den Pavillon mit mobilen Wänden ausgestattet und die Fensterscheiben verdunkelt. Je nach Bedarf kann der gläserne Raum nun für eine konventionelle Ausstellungsarchitektur oder auch als Kinosaal genutzt werden.
Die historischen Zelluloid-Streifen haben heute einen Teil ihrer einstmals revolutionären Sprengkraft eingebüßt. Aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten sie die kleinen Fluchten aus dem gesellschaftlichen Mikrogefüge, die Abweichungen von der Norm. Die Filme formulieren erste Gehversuche mit Experimenten, die heute teilweise im kulturellen Leben akzeptiert sind, zum Zeitpunkt ihrer Entstehung aber wegen ihrer radikal utopischen Perspektive scheiterten.
So misslang 1973 der Versuch Joelle de la Casinières, das Theaterstück „Henry IV.“ von Shakespeare in einer kolumbianischen Stadt unter Beteiligung der Einwohner zu realisieren. Durch seine subjektive Anteilnahme, angelehnt an den italienischen Neorealismus, vermag dieser Film über das Nichtzustandekommen den Zuschauer zu fesseln. Barbara Hammer findet in „I was/I am“ nicht nur erfolgreich zu ihrer lesbischen Identität, sondern schafft auch einen surrealen Bilderreigen, der sich durchaus mit Meistern des Genrekinos wie Alejandro Jodorowsky vergleichen kann, allerdings sehr viel kürzer ist. „Flaming Creatures“ von Jack Smith sorgte als plüschig ausgeschmückte Orgie, mit Blumen und Maskerade, bei der ersten Präsentation im Jahre 1963 für einen handfesten Skandal. Dabei war der Film trotz erkennbar abgebildeter primärer Geschlechtsteile eigentlich als Dokumentation eines Happenings und nicht als Pornofilm gedacht. Gegen die Pornografie wiederum wendet sich ein Film Charles Keatings. Der abgelichtete geifernde Moralist wirkt heute kurios.
„Die gesellschaftlichen Maßstäbe verschieben sich im Laufe der Zeit deutlich und sind immer nur für eine kurze Zeit definiert“, kommentiert Pouthier, deshalb sei es interessant, die Entwicklung von Außenseiterpositionen zu verfolgen.
Ausstellung im Pavillon auf der Freundschaftsinsel, zu sehen bis 27. November, Di bis So, von 12 bis 17 Uhr
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