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Kultur: Ach Jette, Jettchen!

Nicht im Garten, sondern in Eiches Kirchlein aus Georg Hermanns „Jettchen Gebert“ vorgelesen

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Bei den Gartenlesungen der Urania ist jede Veranstaltung ohnegleichen, bei ihr sind selbst die Reprisen noch original. So konnte man also am stürmisch-feuchten Wochenende getrost gen Eiche pilgern, obwohl der Rosengarten von Barbara Welk-Nies und Günter Nies bereits im vergangenen Jahr die Ehre einer Lesung hatte. Damals stand, zum Umfeld passend, Georg Hermanns „Rosenemil“ auf dem Plan, eine sentimental-naturalistische Liebesgeschichte mit tragischem Ausgang. Nun ging man in denselben Garten, der diesmal selbstverständlich anders blüht, um Georg Hermanns wohl bekanntesten Berlin-Roman zu hören: „Jettchen Gebert“, Bestseller von 1906, eine sentimental-naturalistische Liebesgeschichte mit tragischem Ausgang.

Der jüdische Autor, der 1943 in Auschwitz umgebracht wurde, hat sie ins Biedermeier zurückverlegt, sentimentale Zeiten brauchen ja sentimentale Bücher, und diese wiederum sentimentale Menschen. Bis heute. Das Strickmuster ist einfach: Die schöne Jüdin Henriette verliebt sich 1839 in den schüchternen Philologen und Literaten Kößling, doch Konvention und jüdisches Ehrgefühl verhindern eine Bindung mit einem Christen. Sie beugt sich dem Familientribunal und heiratet einen kleinen fetten Dicken ungeliebt, was im späteren Teil zwei, in „Henriette Jacoby“, zu den wüstesten Konstruktionen und erwartungsgemäß zu ihrem Freitod führt.

Nun war an diesem Wochenende gerade der Schafe Kältezeit, was Niesens Gartenrosen vermutlich mehr gefiel als dem Publikum. Stürme, Regen, Kühle. Dankenswerterweise erwies sich Eiches Evangelische Gemeinde als wahrer Helfer in der Not, sie stellte Uranias Hörerschaft das Kirchlein von 1771 selbstlos zur Verfügung, kurzer Abriss ihrer Geschichte inklusive. Der Wechsel ins Trockene war kein Problem, weder für die brillanten Vorleser Marie-Luise Arriens und Hans-Jochen Röhrig, noch für Rita Herzog am E-Piano, wo sie, sehr hübsch, Mendelssohn-Bartholdys „Lieder ohne Worte“ und „Variationen“ von Beethoven einstreute.

Es wurde ein richtig dufter Abend, ein wahres Original, die beiden Schauspieler liefen in ihrer szenischen Lesung zur Hochform auf. Röhrig startete sogar mit Selbstgesungenem durch, und wenn man dann zum x-ten Male hörte, dass die Haushaltshilfe Minna sich mitten in der Bürgerküche wusch, na dann aber, ich bitte Sie! Dann gab es auch etwas zum Lachen. Niemand hätte sich da gewundert, wenn der namenlose Kirchbau abgehoben und vom Schafswind weggetragen worden wäre: ins Reich der Phäaken oder des Epikur, wo ja Genießen bekanntlich Pflicht ist.

In der Pause war noch einmal Gelegenheit, Gartenblick und Catering vor Ort zu fassen. Manche gingen rüber, manche blieben, denn wieder kam ein kalter Guss von oben. Teil zwei wurde ja auch immer trauriger, denn Jette hatte dem Insistieren von Tante Riekchen und Onkel Salomon, bei denen sie als Waise in Dankbarkeit seit beinahe 30 Jahren wohnt, rein gar nichts entgegenzusetzen. So willigte sie, stumm und starr, in die Heirat mit dem ungeliebten Dicken ein. Julius sein Name, ein Vetter. Ach, Jette, Jettchen, gar kein Einspruch von der Holden, die in der Königsstraße einst an Friedrich Kößling vorüberschwebte? Sie kann nichts dafür. Nicht das Leben, sondern Georg Hermann hat ihr dieses willkürliche Dasein – im Geiste Fontanes – zugeordnet. Je mehr sie sich dreinschickt, um so mehr seufzt das Publikum. Schön sentimental natürlich!

Gerold Paul

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