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Kultur: Akustische Signale von der Insel

Kornelius und Konstantin Keulen in Druckerei Rüss

Stand:

„Geschwätz ist nur Blendwerk“. Die Autoren dieser Gedichtzeile lasen sie nicht selbst, sondern saßen im Publikum. Der unauflösliche Widerspruch, mit dem diese Worte dennoch ausgesprochen werden, machte das Publikum genauso sprachlos wie die Urheber. Kein Publikumsgespräch wollte sich im Anschluss an die Lesung einstellen, gleichwohl Buchhändler Carsten Wist für die intelligentesten Fragen Buchpreise ausgelobt hatte. Was für eine absurde Idee. Eine Lesung mit zwei Autoren, die sich dem aktiven, akustischen Sprachgebrauch seit frühester Kindheit verweigern und dennoch mit dem Medium so verblüffend meisterlich umgehen, wie sollte das funktionieren?

In der Druckerei Rüss gibt es Samstagabend keinen freien Stuhl mehr, die Veranstaltung in Zusammenarbeit mit dem Brandenburgischen Literaturbüro verfügt über eine magische Anziehungskraft. Frank-Volker Merkel, von Wist als „literarischer Globetrotter“ und Kommilitone von Kornelius und Konstantin Keulen vorgestellt, agiert als Sprachrohr für das vermeintliche Blendwerk, aus dem er vornehmlich Lyrik rezitiert. Aus der für den ersten Teil veranschlagten halben Stunde wird mehr, und das Zuhören schwieriger.

Die Texte bräuchten Zeit. Aufgeschrieben wurden sie, sagt die Mutter Silvia Keulen, meist in einem Fluss aus der Erinnerung. Noch brauchen die Söhne beim Schreibprozess die Begleitung ihrer Mutter, wenigstens daneben sitzen solle sie, sagt Silvia Keulen. Sie sagt nur sehr wenig über das Leben, den vermutlich oft schwierigen Alltag mit den 1985 geborenen Zwillingen, die als autistisch gelten. „Wir sind hier in einer literarischen Lesung und nicht bei ,Zimmer frei’ der Familie Keulen“, betont Literaturexperte Carsten Wist gleich zu Anfang. Er wolle kein Schaulaufen. Aber auch er kann niemandem vorschreiben, warum er zu der Veranstaltung kommt, ob aus Neugier oder auf der Suche nach literarischen Offenbarungen.

Zweifellos schreiben hier zwei, die wissen, was sie tun. Oder ist es ein Automatismus, dem innersten Bedürfnis gehorchend, einem Bedürfnis nach Rechtfertigung für ihr Schweigen, ihren sonderlichen Weg, ihre Zurückgezogenheit in die innere Emigration, aus der sie sich doch immer wieder einen Weg bahnen müssen? Wer kann so schnell diese Sprache verstehen? Man kann die Texte lesen als Worte von zwei stummen Autisten, die hier von einer Inselwelt Signale schicken und sagen: Seht her, es geht uns gut, wir fühlen uns wohl, macht euch keine Sorgen um uns. Hier und da sind dennoch Sehnsüchte, Unsicherheiten versteckt: „Tu ich es oder nicht – meine schützende Kammer verlassen?“ Oder man kann die Texte lesen als die Wortflut zweier junger Menschen mit ihren Sorgen und Nöten, Wünschen und Träumen, vom Sehnen nach Liebe und Nähe, wie es jeder kennt.

Natürlich nimmt die Beschäftigung mit dem Medium Sprache und Wort viel Platz in ihrem Werk ein, nicht umsonst heißt der im vergangenen Jahr erschienene Band „ und jagen unseren Gedanken nach“. „Sie denken immerzu und sehr viel“, vermutet ihre Mutter, „und haben dann Mühe, diese Gedankenfülle rauszulassen.“ Vielleicht entspricht die wilde Mischung im Buch dem Gedankensturm im Kopf der Brüder: witzige Lyrik über „Kants Katze“, Zungenbrecherisches über Spiegelbilder, Wortgewaltiges im Stil von Trakl, George und Hölderlin. Daneben der „Auszug aus einem Versicherungsschreiben“. Mehr Bücher werden kommen, so ihr Lebensplan nach dem Studium an der Universität Potsdam. Die Zeit wird zeigen, ob man in 20 oder 30 Jahren noch immer von ihrem literarischen Werk reden oder eher dem Fakt Anerkennung bezeugen wird, dass sich eine differenzierte Betrachtung des Begriffs Autismus lohnt. Steffi Pyanoe

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