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Kultur: Alle Spuren führten ins Nichts

Edgar Hilsenrath las im Literaturladen Wist aus „Das Märchen vom letzten Gedanken", einem Buch über den Genozid an den Armeniern

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Edgar Hilsenrath las im Literaturladen Wist aus „Das Märchen vom letzten Gedanken", einem Buch über den Genozid an den Armeniern „Ich bin der Märchenerzähler in deinem Kopf. Nenne mich Meddah. Und nun sei ganz still, Thovma Khatisian. Ganz still. Denn es dauert nicht mehr lange. Bald ist es soweit. Und dann...wenn deine Lichter allmählich ausgehen...werde ich dir ein Märchen erzählen.“ „Was für ein Märchen Meddah?“ „Das Märchen vom letzten Gedanken. Ich werde zu dir sagen: Es war einmal ein letzter Gedanke. Der saß in einem Angstschrei und hatte sich versteckt.“ Geheimnisvoll mäandernd, wie ein orientalisches Märchen, beginnt der Roman Edgar Hilsenraths über das Sterben des armenischen Volkes, der 1989 beim Verlag Dittrich erschien. Nach Franz Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ (1933) ist es das zweite literarische Werk, das sich den Genozid an den Armeniern zum Thema wählte. Auch Edgar Hilsenrath ist ein deutschsprachiger jüdischer Autor, der das Schicksal der Armenier in der Türkei 1915/16 mit der Shoa in Beziehung setzt. Der Verleger Volker Dittmann las im Literaturladen Wist den Prolog des Romans. Erklärte die Konzeption und die Textstruktur. Stellte den Autor vor. Nahezu 20 Jahre wären vergangen, bis der Roman in seiner endgültigen Form vorgelegt werden konnte, sagte Dittmann. Geschrieben in einer sorglosen Stilmischung zwischen orientalischem Märchen, Satire, Bericht, Parodie, Schelmenroman, Idylle, Legende... Ein gewagtes Unternehmen angesichts des ernsten Stoffes. Dittmann berichtete von der langwierigen Recherche, die mit einer Reise des Autors in die Türkei begann. Hier hätte Hilsenrath gehofft, auf Spuren des armenischen Lebens zu treffen. Der Erfolg der Reise wäre sehr gering gewesen. Nur einige Kirchen und Ruinen wären noch auffindbar. Zeitzeugen, die über den Völkermord hätten berichten können, fanden sich nicht. Schriftliche Zeugnisse und Dokumente wären Hilsenrath in der Türkei nicht zugänglich gewesen, da der Genozid hier noch immer verleugnet wird. In keinem Geschichtsbuch der Türkei sei er auffindbar. In Berlin hätte Hilsenrath die historischen Dokumente einsehen können, die auch Werfel zur Verfügung standen. Doch für ein literarisches Werk hätte er ethnologisches Material über das Leben der Armenier benötigt. Dieses fand Hilsenrath in der Public Library in Saratoga in Kalifornien. Erst nach eingehendem Studium dieses Materials hätte Hilsenrath die unglaubliche Geschichte des Wartan Khartasian aufschreiben können. Die in einem anatolischen Bergdorf beginnt und in den türkischen Folterzellen endet. Sich im Roman in einem fortwährenden Dialog zwischen dem Sohn Thovma und dem Märchenerzähler Meddah entfaltet. Immer wieder erzählt Meddah die Geschichte von Thovmas Geburt im Jahr 1915 anders. Aber immer hat sie sich auf einer Landstraße in Richtung Mesopotamien ereignet. Unter den Peitschenhieben türkischer Gendarmen. Einmal wird Thovma mit einem Rundsäbel der Mutter aus dem Bauch geschnitten. Einmal in Hockstellung in den Straßensand geboren. „Dich ließen sie einfach zurück“, sagt der Märchenerzähler Meddah zu Thovma. Ein türkisches Paar, Maria und Yussuf, fanden den „ohnmächtigsten Zeugen der Welt“ und zogen ihn auf. Damit er später bezeugen kann, dass nicht alle Menschen böse seien. Dem Generalsekretär des „Vereinten Völkergewissens“ erzählt Thovma Khatisian später, dass er mit 13 Jahren anfing, seine Geschichte zu erforschen: „Ich bin auf viele Spuren gestoßen, aber sie führten alle ins Nichts.“ 60 Jahre lang hat sich Thovma Khatisian von Überlebenden des Massakers Geschichten erzählen lassen, Geschichten aus Hayastan, das auch Türkisch-Armenien oder Anatolien genannt wird, wie er dem Generalsekretär berichtet. Drei Bücher mit jeweils 6, 12 und 18 Kapiteln erzählen nun die Geschichten von idyllischen Dorffesten, als Kurden, Türken und Armenier noch friedlich miteinander lebten, von grausamsten Massakern an armenischen Männern, Frauen, Greisen und Kindern gleichermaßen. Berichte, Geschichten, Orte, Zeiten, Fiktion und Realität verschmelzen im Roman ineinander. Die so poetisch wie idyllisch anmutende Geschichte von Wartan Khartisians erstem Zahn und seinen ersten Schritten las Hilsenrath selbst: „Wenn ein Kind die ersten Gehversuche macht, dann feiern die Armenier das Schekerlifest, das Fest der ersten Schritte, denn es heißt: die Richtung der ersten Schritte deutet seinen künftigen Lebensweg an. An Wartans Tag der ersten Schritte schien das ganze Dorf im Oda versammelt zu sein, obwohl ja nicht alle Platz fanden... Sie feuerten deinen Vater an, aber er wollte nicht weiter. Blieb einfach auf der Türschwelle stehen, als ob er Angst vor der großen Welt da draußen hätte." Barbara Wiesener

Barbara Wiesener

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