Von Gerold Paul: Alles umsonst
„24 Stunden Schiffbauergasse“: Der Kulturstandort wurde zum rund-um-die-Uhr Erlebnisquartier
Stand:
Was nichts kostet, kann auch nicht taugen, meinte früher der Volksmund. Heute ist man natürlich weiter: Weil aber alle Veranstaltungen des 24-Stunden-Anlieger-Marathons der Schiffbauergasse „gratis“ waren, geschah das genaue Gegenteil: Leute über Leute, Kinder über Kinder, Künstler über Künstler! Bisher schien es ja eher, als hätte sich die Stadt mit dem Status Quo – denkmalgerechte Restaurierung von Gebäuden, Entscheidung für die vorwiegend „soziokulturelle Schiene“, jährlicher Hilfsfond für den Grundbetrieb – eine Art modernen Ablass schaffen wollen.
Es war auch ziemlich keck, den gesamturbanen Kraftakt „24 Stunden Schiffbauergasse“ als kulturellen Hintergrund für den gerade in Potsdam tagenden Kinderärzte-Kongress zu bezeichnen, wie es die Marketing-Abteilung der Stadt zu tun beliebte. Das zeigt ungefähr, wohin der Hase läuft. Für das massenhaft heraneilende Volk war es eine Attraktion, für die „Anlieger“ eher ein Notruf. Schon lange herrscht Unbehagen über die mangelnde Zuschauer-Frequenz. Weniger Richtung Hans Otto Theater, mehr gen Schirrhof, wo etliche Kulissenhüter immer erst gefragt werden wollen, ob da ein Nagel eingeschlagen werden, ein Seil befestigt werden darf.
Wochenend-Betrieb statt Kontinuität beklagen die Soziokulturellen schon lange, fehlende Tages-Frequenz das „fluxus +“, das man in die diesjährige Konzeption so richtig nicht einbinden konnte. Vielleicht hatten die Städtischen nicht geahnt, dass es nicht reicht, einen „Kulturstandort“ zu basteln, man muss ihn sich auch leisten können! Wann wird übrigens das Konzept der Unternehmensberatung AWC zum koordinierten Standortmanagement umgesetzt?
Die „Anlieger“ taten jedenfalls für vierundzwanzig Stunden – von 14 bis 14 Uhr – das ihre, und mehr. Bereits am Samstagnachmittag war in besagter Gasse kaum ein Durchkommen mehr, Autos stopften, Busse blockierten den Weg, Fahrräder, Mütter mit Kindern im Gegenstrom, Parkplätze ebenerdig: Keine. Auch zum Abend hin war mächtig Betrieb, wenn auch zeitweise nur von der fernen 24-Stunden-Open-Air-Tanzfläche Klangliches zu vernehmen war und eine Mini-Panne die große Aufführung „Irrlichter der Nacht“ vor der Schwelle des T-Werks unwesentlich verzögerte.
Alles, was sich mobilisieren ließ, wurde zum Dreiviertel-Septembermond aktiv, „Hans Otto“, „Waschhaus“, „T-Werk“, „farbik“, all die anderen, boten kostenlos Kultur nonstop, das heißt, so gut wie auf eigene Kosten. Was wunder, wenn man, womöglich, Eigenproduktionen präsentierte? Kinderveranstaltungen zu Hauff, Hörspiel-Marathon, Disko und Konzert, Lesung und Theater, Ausstellungen, Filme, Leben innen und außen, Feuerschalen, Feuerkörbe, Bühnen samt Liegestuhl auch da, wo man es nicht vermutete, auf den Gras-Terrassen des Theaters mit Blick zum Tiefen See, wo die Flusslichter blinkten. Ein extraschöner Himmel, eine gute Nacht. Könnte immer so sein, wenn es ganz anders nicht wäre.
Gesamt-Ideenfinder war HOT-Intendant Tobias Wellemeyer, am Gelingen dieses Vierundzwanzig-Stunden-Nonstop hatten alle Anteil. Eine logistische Meisterleistung für das „komplexe System“, Respekt. Was aber wäre diese Veranstaltung ohne ihr Extra, „Stadt für eine Nacht“ benannt! Rund um die große Freilichtbühne waren fast dreißig Büdchen aufgebaut, vom Haupt-Akteur, dem Volk, sehr rege besucht. Viele hatte da etwas zu bieten, letztlich auch Kultur: Astrophysiker und Urania, Landschaftsarchitektur und Galerie, Buchladen und Weinhandlung, Naturkundemuseum und Uni, Sport und Agrarinstitut. Man konnte Wasser sieden sehen, über Erderwärmung und Seebeben parlieren, sich für ein Potsdamer Hospiz engagieren, Spiele spielen oder Installationen anschauen, „Liebesgaben“ im Schummerlicht, zum Beispiel. Tolle Idee, die „Stadt in der Stadt“ hatte wohl die dicksten Frequenzen.
Völlig unklar, warum man solche Sachen nicht schon längst einmal auf den Weg gebracht hat, bescheidener vielleicht, dafür real, doch ach, alles braucht ja immer erst einen Anfang. Die Leute wollen und suchen Attraktionen, schon die alten Römer wussten das. Wann hat man denn so gut besuchte Galerien gesehen, wie an diesem Abend: Anders als die subversiven Kulturcontainer platzte „Ich Wicht“ mit seinen tausend grauen Luftballons auf dem Fußboden und einer Riesenkinderschar noch späten Abends fast aus allen Nähten, ein echter „Kunst-Raum“ eben. Eher dezent hier die Gastronomie, nicht so sehr im Vordergrund wie etwa zur alljährlichen Schlössernacht.
Ein Nacht-Spion könnte nun erzählen, was hier früh um drei geschah, um fünf. Erst gestern 14 Uhr, nach der Aufwach-„Medizin nach Noten“, war das große Schaulaufen in Sachen Kultur zu Ende. Man wird seine Schlüsse ziehen, aber eines ist nun wohl klar: So trostlos, so trübe wie eh darf es nicht wieder werden. Kultur ist doch nur ein Synonym für Leben, für Gegenwart! Die Stadt als Mitfinanzier dieses Grand Event steht nun erst recht in der Pflicht. Sonst war wieder mal alles umsonst.
Gerold Paul
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: