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Ende oder Anfang. Die Deutschen ziehen weg aus Dörfern wie Bergholz in Vorpommern, die Polen ziehen her. „Hier entsteht was“, sagt Krzysztof Pyrka, der im Dorf ein Dolmetscherbüro betreibt, im Dokumentarfilm, den Regisseur Markus Stein in Potsdam vorstellte.

© Hoferichter & Jacobs Film- und Fernsehproduktion

Kultur: Am Anfang der Welt

Der Film „Nur der Pole bringt die Kohle“ beleuchtet das Leben im deutschen Speckgürtel von Stettin

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Eine gute Nachbarschaft sieht anders aus: Vor etlichen Jahren tauchten Deutsche in Polen vor Häusern auf, sie wirkten vorwurfsvoll, geradezu herrisch: „Das war mal unser Eigentum, also behandeln Sie es bitte pfleglich! Wir kommen nämlich wieder!“ Als Polen 2004 der EU und dem Schengener Abkommen beitrat, war die Angst davor so groß, dass eine Zusatzklausel ausgehandelt wurde: Deutschen Staatsbürgern war es verboten, in Polen Land zu kaufen. Seit 2009 dürfen sie es zwar, aber nicht als Dauerwohnsitz.

Der Dokumentarfilm „Nur der Pole bringt die Kohle“ von Markus Stein, der am Mittwochabend in der Landeszentrale für politische Bildung gezeigt wurde, beginnt in Stettin, polnisch Szczecin, einer Großstadt mit 400 000 Einwohnern an der Grenze zu Deutschland. Nein, eigentlich beginnt er ganz in der Nähe von Stettin, auf deutscher Seite: Hier befindet sich die Gemeinde Löcknitz, 3000 Menschen wohnen hier und in den Dörfern rundherum, eine idyllische Gegend, in der nur noch wenige leben. Es gibt kaum Arbeit, die Infrastruktur ist dörflich, die jungen Menschen hat es längst in die Ferne gezogen, nach Berlin oder nach Hamburg etwa, viele Häuser sind verfallen. Dennoch ziehen Menschen dorthin, der Pole Krzysztof Pyrka etwa, der im Dorf Bergholz ein Dolmetscherbüro betreibt: „Viele Menschen sagen, das ist doch am Ende der Welt. Und ich sage dann: Ach, das ist am Anfang der Welt! Hier entsteht was.“

Wie in anderen Großstädten auch, zieht es die Stettiner Bewohner hinaus aus der Stadt, Wohnraum ist knapp und teuer, irgendwo muss ja auch Platz für die Kinder sein. Und keine 15 Kilometer weiter verfallen die Häuser, ab 30 000 Euro ist schon eins zu haben, eine Win-win-Situation, wenn man es so betrachtet. Regisseur Stein, der im polnischen Lodz studiert hat und fließend Polnisch spricht, hat die neuen Nachbarn mit seiner Kamera begleitet – und dabei festgestellt, dass es nicht ganz so einfach ist.

„In Polen werden die Häuser weiter übertragen“, sagt Agnieszka Horn, die mit ihrem Mann eine Immobilienfirma betreibt. „Das ist sehr selten, dass da mal ein altes Haus auf dem Markt ist.“ Das Geschäft mit den deutschen Immobilien floriert, in den letzten fünf, sechs Jahren haben sie 140 Häuser an polnische Familien verkauft. In dem kleinen Dorf Rosow etwa ist die Hälfte der Einwohner polnisch – Familien, Künstler, Wissenschaftler sind auf der deutschen Seite auf der Suche nach etwas Neuem. Oft werden die Häuser nur als Schlafzimmer genutzt: Gearbeitet wird weiterhin in Stettin. Annexion andersherum.

Und wie gehen die Bewohner mit der neuen Nachbarschaft um? „Wenn die Polen Häuser kaufen, dann stehlen sie nicht mehr“, heißt es lapidar – Vorurteile gibt es natürlich auf beiden Seiten: Klar, der Pole klaue Autos und sei schlampig, der Deutsche pedantisch und ein humorloser Nazi. Krzysztof Pyrka kennt das: „Zu viele Vorurteile zu haben, ist nicht gut, aber manche helfen ein bisschen, manche schützen“, sagt er. Es gebe ja auch positive Vorurteile: dass Polinnen schön seien und der Pole gut improvisieren könne. Und mit dem Vorurteil, klebrige Finger zu haben, wird sogar in Polen gescherzt: „Ich hatte noch nie Lust, in Deutschland etwas zu klauen“, sagt ein Friseur auf der polnischen Seite. „Aber manche halten es ja für einen patriotischen Akt, dort ein Auto zu stehlen.“

Markus Stein gelingt es gerade mit diesen Zitaten, dass man oft lachen muss. Obwohl: Worüber lacht man jetzt eigentlich? Über den Polen, den Deutschen? Über das Vorurteil? Oder lacht man nicht eigentlich über sich selbst? Dazu passt das Porträt der scheinbaren Idylle, die die Kamera einfängt, ohne jemanden dabei vorzuführen: die freiwillige Feuerwehr etwa, der in einer Nacht das komplette Feuerwehrauto geklaut wurde, oder der Bademeister im Löcknitzer Freibad, das nur von Polen besucht wird. „Wenn wir nicht hier wären, könntet ihr dichtmachen“, habe ihm ein Pole gesagt. „Seit ihr hier seid, kommen die Löcknitzer gar nicht mehr her“, konterte er.

Für Regisseur Stein seien die ganzen Vorurteile ein schmerzhaftes Thema gewesen: „Ich wollte nicht losrennen und die Deutschen und Polen nach ihren Vorurteilen fragen“, erzählt er im Filmgespräch. Das sei aber falsch gewesen: Man kann sie nicht einfach ignorieren. Auch Marta Szuster ist zum Gespräch geladen. Die 34-Jährige ist gebürtige Stettinerin, hat in Hamburg gelebt, ist jetzt zurückgekehrt – und sitzt im uckermärkischen Gartz im Gemeinderat: Das Amt Gartz hat zwölf Prozent polnische Einwohner, in den Kindergärten sind 15 Prozent polnische Kinder. „Ja, es sind schon die Polen, die klauen, da brauchen wir nicht herumzureden. Aber es sind nicht die Nachbarn: Die kaufen kein Haus, um nebenan zu klauen“, sagt sie. Sie habe es sich zur Aufgabe gemacht, die Menschen zusammenzubringen. Viele wohnen seit Jahrzehnten dort, waren aber nicht einmal im polnischen Gryfino – und das liegt direkt gegenüber, nur die Oder ist dazwischen.

Über die Zukunft entscheidet wohl die nächste Generation, etwa die, die auf das zweisprachige deutsch-polnische Gymnasium in Löcknitz geht. Am Ende des Films sitzen drei 13-Jährige zusammen und können sich nicht entscheiden, welche Nationalität sie denn haben. Woran macht man das fest? Geht es darum, wie man sich fühlt? Zunächst herrscht Ratlosigkeit. „Ich fühle mich wie eine rein Deutsche“, sagt Natalie. „Nur mein Opa hat etwas dagegen, wenn ich das sage.“ Wenn es also noch eine Grenze gibt, dann ist es die Sprache. Und eigentlich ist die höchstens eine Barriere.

Der Film „Nur der Pole bringt die Kohle“ wird am heutigen Freitag um 22.40 Uhr auf Arte gezeigt.

Oliver Dietrich

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