Kultur: „Anderssein“
Theaterpremiere über das Leben mit Behinderung
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Menschen sind verschieden. Eine Binsenweisheit. Doch wenn die einen gehen können und die anderen an Rollstühlen gefesselt sind, wird das „Anderssein“ offensichtlicher und mitunter zum Problem.
Was sie trotz und gerade wegen ihrer Verschiedenheit einander zu sagen haben, ist heute im „Haus der Begegnungen“ zu sehen. Der Regisseur Axel Tröger beschäftigt sich schon lange mit brisanten sozialen Fragen. Im vorigen Jahr produzierte er das Theaterstück „Die Platte lebt“, heute hat sein neues Opus Premiere. Mit dreizehn geistig oder körperlich behinderten Menschen entwickelte er das Thema „Den Alltag leicht nehmen. Leben mit Behinderung“. Es ist erneut eine Szenenfolge und wieder so unaufwändig wie effektiv eingerichtet: mehr erlebt als ausgedacht und in der Tendenz heiter. Die öffentliche Voraufführung am Donnerstag ging dem Publikum ganz deutlich unter die Haut.
An einer Bushaltestelle fragt ein Spastiker nach dem Bahnhof, doch die Umstehenden verstehen nur „Bauernhof“. Sie wenden sich ab. Eine Rollstuhlfahrerin pflegt ihre Blumen auf dem Balkon, ihre Nachbarin kommt. Erstmals mit einer solchen Situation der Behinderung konfrontiert, wirkt sie hilflos. Die Blumenfrau im unerwartet heiteren Umkehrschluss sagt: „Na, ich muss mich mal um sie kümmern“.
Letztlich thematisieren alle Szenen Vorurteile und Missverständnisse aus der Sicht der scheinbar „heilen Welt“: Das kannst Du, trotz deiner Krankheit? fragt der Besuch. In völliger Unsicherheit lügt er ihr und sich selber die Hucke voll: Fühlen sich die einen mehr gehindert als behindert, so ist es bei den „Gesunden“ umgekehrt. Wie im Spiegel ist einer das Problem der anderen. Der Spastiker diesmal beim Schuhkauf: Die Verkäuferin fühlt sich nicht in der Lage, mit ihm zu sprechen, sie sucht die Vermittlung seiner Begleitung, was nicht nur peinlich, sondern auch kränkend wirkt. Für den Zuschauer entsteht dabei ein wie von leichter Hand gewirkter Humor, zwar äußerst bitter, aber immerhin. Das kann Theater. Die Spieler wollen deutlich machen, dass sie durchaus in der Lage sind, ihr Leben zu meistern, wenn sie von den „Gesunden“ nicht immer nur „anders“ behandelt würden. Sie suchen Anerkennung, nicht Mitleid, aber auch Liebe, wie einige Szenen sehr leise zeigen, richtige Liebe.
Der etwa einstündige Theaterabend in der Waldstadt II beginnt mit der Vorstellung der Akteure. Jeder sagt, wer er ist, einige fügen mit Schlichtheit hinzu „Ich fühle mich nicht behindert“. Einige leben zu Hause, andere gehen zur Arbeit, aber jahrelang nur Fröbelsterne basteln? Solcherart „Beschäftigungstherapie“ verhindert Selbstfindung eher. Ausbrechen, etwas Eigenes tun, eine ganze Nacht lang Floß fahren, das wäre schön...
Das zahlreich erschienene Publikum, nach altem Theater-Aberglauben gebeten, von Beifall abzusehen, applaudierte trotzdem, die Szenen waren ja auch so glaubhaft, wie das Spiel ihrer Darsteller überzeugte. Das Halbjahresprojekt selbst wird vom Europäischen Sozialfond gefördert, um so trauriger, wenn es bei der einen Vorstellung heute bleiben sollte. Die Stadt muss sich etwas einfallen lassen, damit dieses Projekt nicht vor seiner Zeit stirbt. Es ist ohnehin schon so kühl in der Welt.
Premiere heute, 19 Uhr, im Haus der Begegnung, Waldstadt II, Zum Teufelssee 30, anschließend ein Publikumsgespräch.
Gerold Paul
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