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Kultur: Angefachte Lust

HOT-Lesung aus Fontanes „Vor dem Sturm“

Stand:

„Vor dem Sturm“ ist nach dem Sturm. Theodor Fontane hatte seinen gleichnamigen Roman-Erstling von 1878 nicht nur sehr lange mit sich herumgetragen, es war ihm auch ein Bedürfnis, gleichsam rückwärtig zu den Ereignissen um 1812/13 Stellung zu beziehen. Preußen war damals in Not, Napoleon auf dem Rückzug von Russland, Friedrich Wilhelm III. zögerte, das Volk zu den Waffen zu rufen. Hier setzt Fontanes vierbändiger, aber kaum bekannter „Debütroman“ ein. Er führt den Leser in die Familie derer von Vitzewitz ins Lebuser Land, Weihnachten 1812. Der Hausvater, Major Berndt von Vitzewitz, ist für eine Volkserhebung gegen den „Bösesten auf Erden“, notfalls auch ohne königlichen Auftrag, sein Filius Levin hingegen meint, dass auch erzwungene Verträge mit Napoleon eingehalten werden müssten. Vater und Sohn sollten die Praxis ihrer Anschauungen nebst deren Folgen bald erproben können, als es galt, auch ohne königlichen Erlass einen Haufen versprengter Franzosen auszuheben.

In der Darstellung der aktuellen Lesereihe „Darauf möcht keiner kommen“ glaubt man in letzter Zeit einen neuen Zug erkennen zu können. Hans-Jochen Röhrig, ein so erfahrener wie singulärer „Programmgestalter“ des Hans Otto Theaters, zudem auch anerkannter Spezialist für „märkische Literatur“ stellte am Sonntag nicht einfach eine gekürzte Fassung des Vierbänders vor. Wie schon bei den letzten Veranstaltungen, so wählte er auch diesmal eine Art „Schnupper-Philosophie“, die einen Ausschnitt gibt und somit zum Weiterlesen ermuntert. Nicht das wohlfabulierte Hauptsujet stand im Zentrum, weder die Rolle Berndt von Vitzewitz“ und seiner Kinder noch die Liaison zwischen Levin und Marie, ja kaum die Politik. Diese Matinee war ganz auf eine wunderbar komponierte Nebenfigur gestellt, auf die dubiose Zwergin Hoppemarieken, was Gotthard Erler in seiner verlängerten Vorrede auch ausführlichst würdigte. Hier fand sich auch der Passus vom „Schmerzenskind“ Fontanes, weil dieses Buch eine besonders lange Entstehungsgeschichte hatte – und die wundersame Sentenz, „wer den Adel abschaffen wollte, schafft den letzten Rest Poesie aus der Welt“.

Sabine Scholze und Hans-Jochen Röhrig gaben eine szenische Lesung der langen, aber nie langweiligen Art über das Leben und Sterben von Hoppemarieken, die Botengängerin und Hehlerin war, einmal beinahe verhaftet wurde, weil sie mit kriminellem Lumpengesindel zusammengearbeitet hatte. Der alte Vitzewitz auf Hohen Vietz hatte ein Einsehen: „Laß sie laufen“, befahl er. Das zahlte sich aus, denn beim Attackieren der Franzosen geriet ausgerechnet Levin in Gefangenschaft. Ihr oblag es, dem Sohn den Fluchtweg zu bereiten. Sehr lebendig, sehr heiter vorgetragen, hatte das überwiegend ältere Publikum daran sein Vergnügen, zumal Christian Deichstetter am Harmonium zu passender Zeit Choräle, Liszt und Mussorgski dazugab. Weniger hübsch war der Eigensinn des Kühlautomaten gleich neben der Lesestätte im Foyer. Er war einfach nicht kleinzukriegen. Auch sonst wird man etwas mehr auf die Akustik achten müssen, denn so schön Sabine Scholze Hoppemariekens Dialekt auch präsentierte, so hallte der Raum doch etwas nach.

Letztlich funktionierte die Methode der Auswahl nicht nur als angefachte Lust, mal wieder zum guten alten Fontane zu greifen. Den Künstlern gelang es sogar, diese Geschichte wie eine gegenwärtige zu erzählen – vor dem Sturm ist eben nach dem Sturm. Gerold Paul

Gerold Paul

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