
© promo
Circus Sonnenstich zu Gast in Potsdam: Artisten mit Handicap und besonderen Fähigkeiten
Artistik jenseits der Norm: Der Circus Sonnenstich eröffnet die internationale Reihe in der fabrik in Potsdam. Die Künstler gewähren dabei ganz private Einblicke.
Stand:
Potsdam - Menschen mit Downsyndrom werden eigentlich immer vermessen. Ihr Leben lang. Wie hoch ist der IQ, wie schwerwiegend der Herzfehler? Wer das weiß, der erkennt den subversiven Witz, den es hat, wenn Hagen Häsler auf einem Zollstock entlangtanzt. Er dreht diese gesellschaftliche Praxis, die alles und jeden in Normen pressen will, einfach um. Nicht soziopolitisch, sondern künstlerisch. „Switch. auss welt innen“ heißt das jüngste Programm des inzwischen 18 Jahre alten Berliner Zirkusprojekts, das an diesem Wochenende als Auftakt einer international besetzten Zirkus-Reihe in der Potsdamer fabrik gastiert.
Der Titel des Stücks erinnert lose an Peter Handkes „Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt“, dieses Durchdringen des einen zum anderen und wieder zurück, das hat Sonnenstich-Leiter Michael Pigl-Andrees inspiriert. Oder besser: Er hat darin das wiedererkannt, was seine Artisten seit Jahren leisten. Diese Fähigkeit, blitzschnell von einer Rolle in die andere zu schlüpfen. „Unsere Artisten sind ja Helden der großen Pose, dann aber wieder sehr bei sich, beim Team“, sagt Pigl-Andrees. Wenn man zusieht, wie sie mit Hula-Hoop-Reifen jonglieren oder am Trapez schwingen, mit roten Gummibällen tanzen und mit leichten Schritten darauf balancieren, könnte man auch sagen: Sie switchen mühelos zwischen Artistik und ganz großer Clownerie.
Eine zusammenhängende Story gibt es in „Switch. auss welt innen“ nicht, die Geschichte ist eher die kleiner, assoziativer Elemente. So wie Kunst ja oft das Alltägliche, das Bekannte in etwas Neues, Ungewöhnliches übersetzt. Und gerade der Zirkus braucht generell weniger kontinuierliche Geschichten, solche die zu Ende erzählt werden müssen. Was dieses Stück im Speziellen zusammenhält, ist seine Nähe zu seinen Protagonisten. „Es ist unser bislang persönlichstes Stück, viele Momente bauen auf den Besonderheiten der Ensemblemitglieder auf“, sagt Pigl-Andrees.
Intime Momente nach außen gekehrt
So wie Sascha Perthel, einer der Artisten, zu Beginn jeder Trainingsstunde seine Zirkuswelt selbst aufbaut. Er choreografiert, welche Geräte wo hinkommen und baut auch am liebsten selbst wieder alles ab. Solche und andere besondere Leidenschaften der Artisten finden sich – künstlerisch abgewandelt – in dem Stück. Etwa das gegenseitige Schminken, das die Artistinnen vor allem vor der abendlichen Disco, die auf den gemeinsamen Reisen obligatorisch dazugehört, hingebungsvoll zelebrieren. Pigl-Andrees weiß natürlich, dass so etwas ein intimer, ein privater Moment ist, deshalb hat er ihn zusammen mit den Artisten natürlich im neuen Stück nur zitiert, „nach außen gewandt“, wie er sagt.
Oder die Szene mit dem Hanteltraining: Einer der Artisten liebt das Hanteltraining und hat es bis zur absoluten Präzision perfektioniert. Bei einem Gastspiel in Süddeutschland lag er einen Nachmittag lang im Schwimmbad, las in der „Men’s Health“, unterbrach für ein paar Sit-ups und Liegestütze, las wieder weiter, unterbrach wieder. Ein ständiges Hin- und Her zwischen Pose und innerer Versunkenheit. Pigl-Andrees entwickelte daraus mit ihm eine Diabolo-Nummer, bei der er von einem Kumpel zum Liegestütz-Duell herausgefordert wird. Das heftige Pumpen wird schließlich von der Artistin Ragna Ronacher, oder besser – ihrem hinreißenden Hüftschwung – aufgebrochen.
Auch Sascha Perthels Koordinationslust findet sich am Ende dieser Diabolo-Szene: Ragna Ronacher wird von den beiden Männern von der Bühne gefahren – doch er ist mit dem Ablauf nicht einverstanden und beginnt, den Abgang neu zu dirigieren.
Perfektes Teamwork auf der Bühne
„Klar springen unsere Artisten keinen vierfachen Salto, aber sie haben super-spezielle Kompetenzen“, sagt Pigl-Andrees. Die besteht, so sagt er, vor allem darin, die Menschen mitzunehmen in ihre Welt, die Zuschauer wirklich Anteil nehmen zu lassen. Das funktioniert vor allem über ihr perfektes Teamwork. Darauf legen auch die Artisten selbst Wert: Auf der Bühne, sagt etwa Florian Klotz, einer der Artisten, finde er Liebe, Lebensraum, Teamgeist. „Da fühle ich mich total sicher.“
Aber die Arbeit des Circus Sonnenstich ist eben mehr als ein Wohlfühlprogramm, das zeigt auch die fabrik, die den Circus Sonnenstich neben dem „Palestinian Circus“ und „Gravity and Other Myths“ – zwei Companies mit Menschen ohne Handicap – eingeladen hat. Ohne das extra zu betonen.
Deutsch-russisches Zirkus-Fest in Berlin geplant
„Die Menschen sind ja nicht gleich – nur gleich in ihrer Verschiedenheit. Aber nur wo eine gleiche Wertschätzung entsteht, kann man sich auch gegenseitig bereichern“, sagt Pigl-Andrees. Für 2016 plant Circus Sonnenstich ein eigenes deutsch-russisches Zirkus-Festival in Berlin, bei dem sicher auch an die Erfahrungen ihres Gastspiels in Sankt Petersburg angeknüpft werden soll. Eine der Gruppen dort arbeitet mit Heim- und Straßenkindern, eine andere aus Nischni-Nowgorod arbeitet seit 28 Jahren mit gehörlosen Artisten. Deren Leiter ist ein international bekannter Pantomime. Daneben sollen auch hier Profi-Companies eingeladen werden.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.
Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.
Der melancholisch-komische Soundtrack zu den Sonnenstich-Performances entsteht übrigens im hauseigenen Studio: Pigl-Andrees Frau, Anna-Katharina Andrees, die auch bei vielen Stücken Regie führt, die Jazz-Sängerin Julia Fiebelkorn und Leo Solter kommen regelmäßig in die Turnhalle, schauen zu, hören, welche Musik bei den Proben läuft – und bauen daraus im Studio eigene Stücke, mit einer eigenen Fantasiesprache, bei der jeder mitsingen kann, egal, ob er Deutscher oder Franzose ist. Die viel beschworene Inklusion, die beim Circus Sonnenstich gar nicht mehr ausgesprochen werden muss, die soll auch zwischen Zuschauern und Team funktionieren.
Circus Sonnenstich, Switch. auss welt innen, Aufführungen: Samstag, 14. März, 19 Uhr, Sonntag, 15. März, 16 Uhr, Eintritt 13 Euro, ermäßigt 9 Euro
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: