
© HL Böhme
Kultur: Auf dem Schlachtfeld
Umjubelte Premiere am Hans Otto Theater zum Spielzeitende: „Eine Familie“ von Tracy Letts
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Momente der Geborgenheit, schöne Erinnerungen, liebende Sorge für die Nachkommen. Das alles könnte Familienglück bedeuten, das sich wohl jeder wünscht. Aber es gibt bekanntlich auch die Kehrseite der Medaille: widerstreitende Interessen, lähmende Verpflichtungen und gestaute Frustrationen. Das scheinbar glückliche Familienidyll, das in US-Filmen auch in deutschen Kinos und im Fernsehen reichlich serviert wird, zerstört der Autor Tracy Letts in seinem Stück „Eine Familie“ zielstrebig. Wie ein großer Dompteur kitzelt Letts das gefährliche, schlafende Raubtier Familie. Alkohol- und Drogenexzesse, Sexgier, Neid und Selbstgerechtigkeit werden am laufenden Band enthüllt. Er lässt schwafeln wie in der blödesten Soap und legt das ganze Gewäsch von Hohlphrasen bloß. Die Zuschauer erfreuen sich an den vielen tragisch-komischen Konstellationen. Doch vielleicht entdeckt so mancher dabei auch ein kleines Stück aus seinem eigenen Leben. Das dürfte wohl ein nicht geringes Anliegen Tracy Letts' sein.
Das Stück trägt den Pulitzerpreis, es hat Tennessee Williams „Die Katze auf dem heißen Blechdach“ und Ingmar Bergmanns „Fanny und Alexander“ zum Paten und T. S. Eliots Romane als guten Geist. Am Broadway sowie an vielen europäischen Bühnen wird es mit großem Erfolg gespielt. Nun auch am Hans Otto Theater. Es könnte ein Publikumsrenner werden. Am Premierenabend am Donnerstag jedenfalls wurden die Schauspielerinnen und Schauspieler, die Regisseurin und die Ausstatterin mit langem und lautstarkem Applaus sowie zahlreichen Bravorufen gefeiert. Auch diese Inszenierung entpuppt sich am Ende der zweiten Spielzeit des Intendanten Tobias Wellemeyer als ein erfolgreicher Beitrag, mit dem das Hans Otto Theater wohl die Krise der ersten Saison überwunden hat.
Beverly Weston (Peter Pagel), Lyriker und emeritierter Professor, notorischer Nörgler und Vollzeitalkoholiker, philosophiert über das Leben an sich und im Besonderen über das gemeinsame mit seiner Frau Violet (Tina Engel), einem Nervenwrack, deren Konsum an Psychopharmaka bedenkliche Züge hat. Zudem ist sie an Mundhöhlenkrebs erkrankt und überfordert die Ehe um den Grad des Erträglichen, so dass Beverly beschließt, etwas zu ändern. Er engagiert die Haushaltshilfe Johanna (Elzemarieke de Vos), die das Chaos beherrschen soll. Dann verschwindet Beverly – auf Nimmerwiedersehen. Die erwachsenen Töchter Barbara, Ivy und Karen (Melanie Straub, Franziska Melzer und Meike Finck) versammeln sich auf dem Westonschen Familiensitz in Sorge um ihre Mutter, auch deren Schwester Mattie (Andrea Thelemann) und Schwager Charlie (Peter Pagel) sowie Enkelin Jean (Juliane Götz) sind gekommen. Aber Violet, die von krankhafter Ich-Sucht geplagt ist, sorgt sich weniger um ihren verschwundenen Ehemann, als um sich selbst. Wie sie ja auch früher als Mutter versagte. Zumindest in den Augen ihrer Töchter. So wird das unerwartete Familientreffen zum Schlachtfeld familiärer Konflikte, auf dem sich Violet bösartig gegen den Rest ihrer Familie in Szene setzt.
Regisseurin Barbara Bürk und das realistische Setting des Bühnenbildes von Anke Grot fesseln ihre Zuschauer – manchmal mit Witz, manchmal mit Drama, dann wieder mit Sarkasmus und Melancholie. Fein dosiert, fein verwoben und verdammt geschickt bemessen, sodass nie ein einziges Gefühl überwiegt. Die Regisseurin lenkt ihre Figuren so, dass sie scheinbar das Normalste von der Welt und dennoch das tun, was ins Verderben führt. Es hätte alles so wunderbar sein können, wenn sich nicht kurz vor Stückende so mancher Klamauk und ein überanstrengtes Aufgedrehtsein breit gemacht hätten. Da war man dann fast an die Grenze zu einem Schreistück gelangt. Das hätte den großartigen Eindruck, den man bis dahin vom Ganzen hatte, fast kaputt gemacht. Zum Schluss wird es aber ganz still auf der Bühne: die von ihrer Familie verlassene Violet sucht Trost bei der von ihr zuvor mit Ablehnung bestraften Haushälterin Johanna, vielleicht auch ein Stück neue Familie. Sie selbst scheint aber niemand Geborgenheit geben zu können.
Die vier Herren der Aufführung, neben Peter Pagel sind Jon-Kaare Koppe, Simon Brusis und Christoph Hohmann dabei, spielen ihre Rollen als Sympathieträger, „Schlappschwänze“ oder „Kotzbrocken“ bestens, doch „Eine Familie“ ist vor allem ein starkes Stück für Frauen. Und das Hans Otto Theater kann mit Schauspielerinnen aufwarten, die vor allem eine vorzügliche Ensembleleistung zeigen. Vor allem der Berliner Theater- und Filmstar Tina Engel – die sich aber nicht so gebärdet – als Violet und Melanie Straub als Barbara waren Traumrollen anvertraut, die sie wunderbar ausfüllen. Tina Engel brilliert als heimtückische, verletzende und verletzliche Frau und schwingt mit festem Griff die Keule des Matriarchats. Melanie Straub zeichnet kraftvoll und messerscharf sowie mit vielen darstellerischen Farben die enttäuschte Frau und Mutter. Sie wird schließlich wie ihre Mutter, Gift versprühend und zur Tablettendose greifend. Doch ein wenig Hoffnung besteht für sie, beim Wiedersehen mit ihrem Jugendfreund, dem Sheriff Deon Gilbeau.
Eine verkorkste Familie. Man ahnt, sie ist nicht wieder zu kitten. Neben den zielsicheren und witzigen Textpointen, die viele Lacher und sogar das berühmte Schenkelklopfen hervorrufen, ist letztendlich aber Mitleid angesagt.
Wieder nach der Spielzeitpause am 3. September, 19.30 Uhr, im Hans Otto Theater in der Schiffbauergasse
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