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Kultur: Auf der Höhe der Zeit

Tanztage II: Mit „Made in Russia“ kam das Potsdamer Tanzfestival zu sich

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In diesem Jahr haben die Tanztage eine Weile gebraucht, um zu sich zu finden. Vielleicht lag das an dem raumintegrativen Konzept, das von der fabrik über die Schinkelhalle bis zum T-Werk führte, den Besuchern ein müßiges Wandern über die Schiffbauergasse abnötigte. Da brauchte man auch eine Weile, um zum jeweiligen Stück zu finden. Nun aber, spätestens mit Oleg Soulimenko und Andrei Andrianov, wusste man erneut, weshalb man den modernen Tanz immer mal wieder als die avantgardistischste, revolutionärste, Körper- und andere Klischees aufbrechende Kunstform durch das Angebot der fabrik lieben lernt.

Dabei fing alles ganz harmlos an. Hinter einem Gazeparavent stehen zwei Männer, auf der Bühne zwei akustische Gitarren, ein tragbares Radiogerät und ein Fernseher auf Rollen. Stell dir vor, sagt Andrei zu Oleg, wir würden Mick Jagger und Andrei Arshavin, den russischen Fußballstar, einladen. Geht nicht, sagt Oleg streng, zu wenig Geld. Und wie wäre es mit Julia Roberts und Fjodor Dostojewski? Nein, auch nicht gut, aber wie wär’s mit Maya Plissetskaja, der russischen Balletteuse und Diva sowie Jean-Luc Godard? Einverstanden, sagt Alexei. Was wie ein harmloses Geplänkel scheint, enthält einige der Klischees, die wie nebenbei demontiert werden, das „depressive Russland“ allen voran.

Es entspannt sich eine fiktive (un-)mögliche Geschichte: Alexei habe im Bolshoi-Ballett mit der alternden Diva getanzt, und Oleg sei der uneheliche Sohn von Godard. Damit haben die beiden auch ihre Vorbilder, Väter und Mütter genannt, von denen sie sich im Laufe ihrer Performance und ihres höchst amüsant und (un-)glaubwürdig dargestellten Lebensweges letztendlich trennen. Schlusspunkt nämlich bilden Abschiedsbriefe, die die Performer an die beiden Götter der Kunst schreiben. Sie brauchen sie nicht mehr.

Zwischen den lakonisch gesetzten Anfangs- und Endpunkten des „Made in Russia“ genannten einstündigen Programms zeigen die beiden aber auch, was sie können: nämlich mit ihrem Körper umgehen wie nur wenige. Eine der Erkenntnisse, die der Zuschauer mitnehmen konnte, war, dass ein Körper als Erinnerungsgefäß und als ironischer Kommentar zugleich fungieren kann. Wenn Oleg eine Pantomime, die er an der Schule für Flugzeugtechnik in Moskau erlernte, wieder zeigt, erinnert sich sein Körper sichtbar daran, wie es war, er überzeugt durch absolute Körperbeherrschung, doch sein Geist lässt ihn mitten in der Bewegung innehalten und zwar so, dass das Publikum lachen muss, weil es das Obsolete an der Pantomime erkannt zu haben glaubt.

Gleich geht es zum nächsten pseudobiographischen Punkt. Das Kofferradio glänzt und blinkt inzwischen, weil sie ihm ein Leuchtband angeklebt haben, das Fernsehgerät rollt wie ferngesteuert durch den Raum, aber da ist Andrei dahinter, und vorne macht sich Oleg seine eigenen TV-Gedanken: „TV has no vision, TV moves your vision“, lauten Sätze seiner Medienkritik.

Nicht alles sei schlecht, was aus Amerika komme, zum Beispiel die Schoko-Riegel, die einen Traum von Freiheit in die postsowjetische Depression brachten. Bald aber kam eine neue Tanzrichtung, die sich Kontaktimprovisation nannte. Niemand verstand, was das war, – die beiden Russen nahmen sich auf den Arm, sie trudelten und strauchelten – aber immerhin habe bei ihnen die intensive Kontaktimprovisation den Effekt gehabt, dass neun Monate später die beiden Töchter auf die Welt kamen. „Ich brauche jetzt mehr Verstand als Körper“, gibt Andrei in seinem Abschiedsbrief an die Diva bekannt, und das stimmt zumindest für das Stück, in dem eine wunderbare Kombination von Geist und Körper gelungen ist. Hier wusste man wieder, weshalb es die Tanztage gibt. Lore Bardens

Lore Bardens

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