Kultur: Auf Wasser und Asphalt
Am 12. Mai beginnen die 20. Potsdamer Tanztage mit dem Ballett der Boote
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Patrick Scully lebt mit dem Wasser. Täglich schaut er auf den Mississippi, der an seinem Haus vorbeifließt, und sieht den Booten nach. Und er denkt an Potsdam, an den Tiefen See. Dort, wo er immer wieder Impulse für seine Arbeit findet und die Zuschauer der „fabrik“ bereits seit Anfang der 90er Jahre mit auf- und anrührenden Choreografien überrascht.
Zur Eröffnung der 20. Tanztage am kommenden Mittwoch wird er mit diesem Wasser spielen. Vielmehr mit den Fahrzeugen, die majestätisch wie Reiher oder langsam schlingernd wie Enten übers Nass gleiten und ein „Ballett der Boote“ tanzen.
In jedem der Boote sieht der Choreograf aus Minneapolis einen Tänzer mit unterschiedlichem Körperbau: behäbig oder fragil, stämmig oder zart. Gemeinsam werden sie in ein „Estradenprogramm“ eintauchen, 50 „Tänzer“ vereint: Ruderboote, Kanus, Flöße, Jollen. Auch ein Krabbenkutter und eine Hamburger Hafenbarkasse, die sonst am Schwielowsee liegen, stechen mit in See und treffen auf das „Havelwunder“, ein großes bemaltes Segelboot aus Werder. „Es war wie ein Schneeballeffekt: Jeder, der einen seetauglichen Unterbau hat, zeigte sich begeistert von dieser tanzenden Idee“, erzählt Festivalleiter Sven Till. Und wer kein eigenes Gefährt beisteuern konnte, sitzt dennoch mit im Boot, wie Mitarbeiter von Oracle, vom VW Design Center oder vom Hans Otto Theater. Die Tanztage verstehen sich als ein Fest, das die Reize der oft gescholtenen Schiffbauergasse herauskehren will.
Patrick Scully erinnert sich, wie es ihm vor einem Jahr in den Ohren wisperte: „Hallo! Hier bin ich, der Tiefe See. Ich möchte dabei sein.“ Er erhörte das Flüstern der Landschaft und bereitete sich gründlich darauf vor, um mit ihr eine gemeinsame Sprache zu finden. Schon als Kind saß er im Kajak, genoss den Sound der Stille. Nun absolvierte er einen Einsteigerkurs in einem Achter-Ruderboot, legte sich kräftig in die Riemen, um Schnelligkeit und Wendigkeit zu testen. Begeistert ist er auch von den Paddeln der Kajaks, wenn sie durch Luft und Wasser propellern. „Sie erinnern mich an die alten Schaufelraddampfer meiner Heimat.“
Seit März proben die schwimmenden Tänzer an ihren „Figuren“, üben Nähe und Entfernung, Loslassen und Verflechtung. Die Fontäne des Springbrunnens vom Babelsberger Park wird um 19 Uhr das Startsignal geben und drei Musiker mit Cello, Trompete, Schlagzeug und Elektro sorgen für musikalischen Wind – ohne Scheu vor dem tiefen Bass der Dieselmotoren.
Wenn sich für die 140 Mitwirkenden der Vorhang für das weltweit erste Bootsballett schließt, geht es vom Wasser zum „Asphalt“ über. Dass keiner zu hart aufschlägt, dafür sorgen Tänzer aus Paris. Von der unkontrollierten Landschaft wechseln die Besucher in einen theatral kontrollierten Raum. Mit Pierre Rigal tritt ein Zaubermeister der Illusion auf die Bühne der „fabrik“. Sein Stück „Asphalt“ entführt nach Fantasia, das jedoch in der realen Welt der Straße wurzelt, wo Liebe Kampf und Spiel pulsieren. Streetdance und Hip-Hop erzählen von Rivalitäten der Gangs, „allerdings in einer fast naiven Verspieltheit und einer ständigen Verwandlung der fünf Tänzer“, sagt Sven Till. Laserlinien geben den Rhythmus vor, Bewegungen gefrieren im Sprung.
Es ist ein „Franzosen-Trio“, das die ersten Festivaltage bestimmt. Neben dem poetischen Bildertanz von Pierre Rigal am 12. Mai gibt es die atemberaubende spektakuläre Jonglage vom Collectif Petit Travers, die am 14. Mai erstmals in Deutschland zum Schauen, Staunen, Verblüffen und Täuschen einlädt. Zur klassischen Musik am Flügel malen drei Darsteller schwebende Linien und Kreise aus hunderten Bällen. Tanz, Musik, Theater, Zirkus und Bildende Kunst verschmelzen zu einer Kaskade expressiver Bilder. „Es ist ein bisschen wie bei Patrick Scully, nur im Raum statt auf See“, sagt Sven Till.
Und auch der Titel von Martine Pisanis Stück „So weit das Auge hören kann“ scheint auf einer Wellenlänge zum Tanz der Boote. Doch die Pariser Choreografin stellt ihren Tanz ins Blütenmeer: auf die Freundschaftsinsel. Bereits im vergangenen Jahr als „Perle des zeitgenössischen Tanzes“ in einer PNN-Kritik gefeiert, darf man auf ein neues Wagnis der Choreografin, die auch Zuhause in einer Gartenidylle lebt, gespannt sein. „Ich habe ihre Stücke immer als sehr zerbrechlich angesehen. Es ist nicht das Spektakuläre, was sie reizt. Martine Pisani schöpft ihr Material aus den alltäglichen Begebenheiten und treibt sie in die Absurdität“, so Till.
Obwohl der Vorverkauf für die insgesamt 24 Vorstellungen bislang super laufe, das Programm bislang dreimal so stark nachgefragt sei wie im Vorjahr, kann sich Sven Till dennoch nicht relaxt zurücklehnen. Es ist die Logistik, die ihm zusetzt. Sieben verschiedene Orte werden bespielt, alle Companien, ob aus Brasilien, Israel, Kanada, USA oder Schweden bekommen die passende Bühne für ihre Choreografien, selbst ins Neue Theater ziehen die Tanztage erstmals ein.
Aber auch die Anzahl der Mitwirkenden bedeute eine riesige Herausforderung, seien es die 140 Gäste der internationalen Swing-Jam in der Schinkelhalle, die wieder angeschobene Contact Jam zu Pfingsten oder eben das „Ballett der Boote“, das sicher in den Hafen gebracht werden will. Heidi Jäger
Das vollständige Programm unter www.fabrikpotsdam.de
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