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Kultur: Aufarbeitung

Lesung über „Kindheiten zwischen Ost und West“

Stand:

An den Tag der Ausreise kann sie sich nicht mehr erinnern. Vier Jahre alt war Anna Schädlich an jenem Dezembertag 1977, als sie, ihre acht Jahre ältere Schwester Susanne und die Eltern, der Schriftsteller Hans-Joachim Schädlich und dessen Frau, die DDR verlassen mussten. Den westdeutschen Grenzbeamten soll sie gefragt haben, ob man jetzt bei den Indianern sei, da sie den Westen immer mit dem Wilden Westen gleichgesetzt habe. „Erzählte Erinnerungen“ heißt denn auch der im sachlichen Berichtstil gehaltene, doch sehr eindringliche Text, den Anna Schädlich am Donnerstagabend im Café „11-line“ las. Es ist einer von insgesamt 18 autobiografischen Beiträgen aus der Anthologie „Ein Spaziergang war es nicht“, die sie mit ihrer Schwester im letzten Jahr herausgegeben hat. Erstmals erzählen darin die Töchter und Söhne regimekritischer Intellektueller und Künstler wie Elijah Havemann, Nadja Klier, Moritz Kirsch oder auch Julia Franck von ihren „ Kindheiten zwischen Ost und West“.

Es sind Geschichten von Heimweh, der schwierigen Ankunft in einem fremden Land und der Zerrissenheit zwischen alter und neuer Heimat, aber auch von den innerfamiliären Spannungen und Zusammenbrüchen. So fallen Anna Schädlich auch am ehesten Begriffe wie Trennungsschmerz und Entwurzelung ein, wenn sie die ersten Bilder ihrer eigenen Erinnerung abruft: die Scheidung der Eltern, die vielen Wohnungswechsel zwischen Hamburg, Westberlin und Düsseldorf, das anfangs befremdlich wirkende Vokabular der neuen Mitschüler oder auch das Staunen angesichts all der bunten Waren.

Eine „Welt aus Multifrucht und lila Kühen“, wie es die Potsdamerin Luise Schönemann einmal nannte. Die Tochter des Regisseurehepaars Sybille und Hannes Schönemann las ihren sehr bildstarken und zugleich auch berührenden Text. Hell und sorglos scheint ihre Kindheit, bis eines Morgens „Männer in Mänteln“ den Vater mitnehmen, bald darauf auch die Mutter verschwindet und sie zu den Großeltern aufs Land geschickt wird. Als sie ein Jahr später, kurz nach ihrem 7. Geburtstag, bepackt mit zwei Taschen, wartend im „Tränenpalast“ sitzt, erkennt sie ihre Eltern kaum wieder. Die nehmen sie mit nach Hamburg, wo sich in ihr das Gefühl der Einsamkeit und Angstzustände ausbreiten. Gerade diese diffusen Ängste und Unsicherheiten in der Fremde verdeutlichten, wie tief der biografische Bruch, dieser Einschnitt war, sagt Luise Schönemann. Am Ende jedoch habe sie daraus, sich immer wieder anpassen und einleben zu müssen, Kräfte gezogen und fast unweigerlich ihren Charakter gestärkt. Susanne Schädlich machte darauf aufmerksam, dass die Eltern im Westen ja meist schon einen Gesprächs- und Bekanntenkreis vorfanden, während die Kinder, oft von einem Tag auf den anderen, ihr vertrautes Leben hinter sich lassen und sich völlig allein in der fremden Welt finden und behaupten mussten. Daniel Flügel

Daniel Flügel

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