Kultur: Aufzeichnungen eines Antifaschisten Moritz Führmann las aus „Zeit des Überlebens“
Das Ende des Dritten Reiches, der Einmarsch der Roten Armee, das liest sich bei Erik Reger so: „Abends nach neun erscheinen die russischen Schlachtflieger. Sie erhellen weite Strecken mit ihren lange stehenden Leuchtfackeln – ganze Alleen von Lampen“.
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Das Ende des Dritten Reiches, der Einmarsch der Roten Armee, das liest sich bei Erik Reger so: „Abends nach neun erscheinen die russischen Schlachtflieger. Sie erhellen weite Strecken mit ihren lange stehenden Leuchtfackeln – ganze Alleen von Lampen“. So schreibt es Reger am 21.April 1945 auf die erste Seite eines Notizbuchs. Reger, der mit richtigem Namen Hermann Dannenberger hieß und später Mitbegründer und Chefredakteur des Tagesspiegels wurde, war einer der bekanntesten Journalisten und Schriftsteller seiner Zeit.
Für seinen Roman „Union der festen Hand“ von 1931 hat er den Kleist-Preis erhalten. Zwei Jahre später jedoch wurde das Buch von den Nationalsozialisten verboten. Mundtot gemacht und von der Gestapo drangsaliert arbeitete Reger bald als Lektor beim Ullstein Verlag. 1943 zog er nach Mahlow südlich von Berlin und begann dort in den letzten Kriegstagen ein Tagebuch, darin schildert er, wie er das Ende des Dritten Reichs und den Einmarsch der Roten Armee erlebt.
Erst im vorigen Jahr und auch eher zufällig ist der Historiker Andreas Petersen auf dieses Dokument gestoßen und hat es unter dem Titel „Zeit des Überlebens“ herausgegeben. Zusammen mit dem Schauspieler Moritz Führmann hat er es am Freitagabend in der Stadt- und Landesbibliothek vorgestellt – im Rahmen der Ausstellung „Im Zwischenreich“.
Äußerst lebendig und fein pointiert, mal hastig gedrungen, mal ganz gemessen und dabei stets spannungsgeladen interpretiert Moritz Führmann diesen Text. Ein begnadeter Vorleser, der auch die von Reger nacherzählten Dialoge so geschickt in Szene setzt, dass man die russischen Soldaten, die eines Tages vor Regers Haustür stehen und „Schnjaps“ verlangen, fast vor sich zu sehen meint. Reger begrüßt sie mit den Worten „Da seid ihr ja“. Dann beschreibt er sie bald als „Zirkusvolk“ und schildert mit der gleichen seltsamen Mischung aus fatalistischer Komik und Ratlosigkeit, wie russische Soldaten auf gestohlenen Fahrrädern betrunken durch den Ort ziehen, um Frauen zu vergewaltigen.
Mitleid empfindet er nicht. Im Gegenteil, so müsse man eben den zwölfjährigen Jubel für die Nazis ausbaden, lautet sein Urteil. Eine Härte, die sich Andreas Petersen nur damit erklären kann, dass Reger wiederum unter den Nazis leiden musste und zudem der Ansicht gewesen sei, dort in Mahlow nur von ehemaligen Volksgenossen umgeben zu sein. Doch auch wenn Reger zu wenig differenzieren mag: Dass er sich echauffiert über die Heuchelei seiner Mitmenschen, die gestern noch linientreu „Heil Hitler“ riefen und heute wieder „Guten Tag“ sagen, um sich den neuen Machthabern anzudienen, dürfte alles andere als übertrieben sein.
Reger selbst und seine Frau bleiben von Plünderungen und Übergriffen der Russen verschont, weil sein Roman „Union der festen Hand“ in der Sowjetunion erschienen war und er ein Exemplar dieser russischen Ausgabe besaß und vorzeigen konnte. Mit falschem Opportunismus hatte das nichts zu tun. Freilich, er war Antifaschist, genauso aber auch Antikommunist.
Reger sei selbst aus dem Arbeitermilieu gekommen, habe es also gekannt und gerade deshalb nichts von den revolutionären Arbeiterbewegungen gehalten, sagte Petersen am Freitagabend. Und so finden sich auch im Tagebuch, das am 10. Juni 1945 endet, nur ironische Kommentare zu den Lautsprecher-Phrasen, mit denen die Russen die neue Ordnung verkünden. Bis zu seinem Tod 1954 blieb Erik Reger ein ideologiekritischer, der Aufklärung verpflichteter und nicht korrumpierbarer Journalist, ein oft unbequemer, aber strikt demokratischer Kopf. Daniel Flügel
Daniel Flügel
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