
© dtv/Bernd Schumacher
Kultur: Aus dem Leben gewachsen
Der Potsdamer Schriftsteller Stefan aus dem Siepen stellt am Montag seinen neuen Roman „Der Riese“ vor
Stand:
Tilman Wölzinger ist ein besonnener Mensch. Ruhig und folgsam und immer freundlich würde er unbeachtet durch sein Leben treiben wie Millionen von Jedermännern vor ihm und wie Millionen Jedermänner nach ihm. Wäre da nicht die Sache mit dem Wachstum.
„Es ließ sich nicht klären, welcher von Tilmans Klassenkameraden zuerst auf den Einfall gekommen war, ihn ,die Dachlatte’ zu nennen, doch alle schienen nur auf den Namen gewartet zu haben, benutzten ihn von jetzt auf gleich mit munter-mitleidsloser Selbstverständlichkeit; denn er spielte nicht nur in einer für witzig gehaltenen Weise auf Tilmans Körpergröße an, die sein hervorstechendster Zug war und dringend danach verlangte, aufs Korn genommen zu werden, sondern zugleich auch auf den Beruf seines Vaters, der eine in ganz Nagoldshausen bekannte Dachdeckerei betrieb.“ So beginnt die Geschichte von Tilman Wölzinger und seinem Makel Größe in dem neuen Roman „Der Riese“ des Potsdamer Schriftstellers Stefan aus dem Siepen. Gleichzeitig beginnt mit diesem Satz für den Leser ein mittlerweile so selten gewordenes Vergnügen auf knapp 200 Seiten. Ein Vergnügen an der Sprache, ihrem Klang und an der hohen Kunst, Sätze so zu komponieren, dass sie wie Musik wirken.
Mit „Der Riese“ (DTV, 14,90 Euro), der am Montag in Potsdam seine Buchpremiere erlebt, ist Stefan aus dem Siepen, so viel vorweg, ein Meisterwerk gelungen. Bezieht man das Romanthema des Wachsens auch auf die Entwicklung des Schriftstellers Stefan aus dem Siepen, der vor „Der Riese“ schon „Luftschiff“ (2006), „Die Entzifferung der Schmetterlinge“ (2008) und „Das Seil“ (2012) veröffentlicht hat, so lässt sich sagen, dass hier einer an Größe gewonnen hat.
Im Grunde erzählt Stefan aus dem Siepen nur die einfache und gleichzeitig so unglaubliche Geschichte eines Menschen, der nicht aufhören kann zu wachsen. Der Leser begleitet Tilman Wölzinger durch sein junges Dasein und erlebt dessen Schwierigkeiten, die sich aus seiner Größe ergeben, die irgendwann 2,39 Meter beträgt. Aber so wie Tilmans Wesen von Sanftmut und Zurückhaltung geprägt ist, so unaufgeregt erzählt Stefan aus dem Siepen von dem Anderssein. Fast möchte man sagen: unspektakulär, wäre da nicht diese Sprache.
In einem Gespräch mit den PNN vor anderthalb Jahren nach dem Erscheinen von „Das Seil“ hatte Stefan aus dem Siepen auf die Frage, was für ihn das Schönste beim Schreiben sei, geantwortet: „Der endlich gelungene Satz.“
Wer die Bücher von Stefan aus dem Siepen liest, tritt in einen Raum wie aus früherer Zeit. Denn in der feinen, so klaren und so melodiereichen Sprache, der sich Stefan aus dem Siepen verpflichtet fühlt, schwingt immer etwas Vergangenes mit. Der aufmerksame Leser erkennt, dass hier einer an jedem einzelnen Satz gearbeitet hat, bis er an den Punkt kam und davon überzeugt war, dass dieser Satz endlich gelungen ist. Trotzdem haben diese Sätze keine Schwere, kein Gewicht, mit dem beeindruckt werden soll. Diese Sprache ist komponiert wie eine Partita von Johann Sebastian Bach. So unvorstellbar leicht und federnd, voll weiter Schönheit und gleichzeitig so unendlich tief. Und wer sich beim Lesen der Bücher von Stefan aus dem Siepen dabei ertappen sollte, dass er bestimmte Sätze wiederholt, dabei das Tempo und die Pausen variiert und ihrem Klang nachlauscht, der kann sich sicher sein, dass er damit in bester Gesellschaft ist.
Stefan aus dem Siepen, mittlerweile 49 Jahre alt, wurde in Essen geboren. Schon als Kind schrieb er, faszinierte von dem, was er las, und bestrebt, gleichfalls so mit Sprache faszinieren zu können. Nach dem Jurastudium trat Stefan aus dem Siepen 1992 in den Diplomatischen Dienst ein und verbrachte insgesamt zehn Jahre in China, Luxemburg und Russland. Seit fünf Jahren arbeitet er im Planungsstab des Auswärtigen Amtes in Berlin und hat zusammen mit seiner Frau und den vier Kindern in Potsdam eine neue Heimat gefunden.
Wie „Luftschiff“, „Die Entzifferung der Schmetterlinge“ und „Das Seil“ ist auch „Der Riese“ eine Parabel. Doch wo in „Luftschiff“ und „Das Seil“ das Fantastische die Handlung prägt, ist es in „Die Entzifferung der Schmetterlinge“ und nun ganz aktuell in „Der Riese“ das Anderssein des Menschen. Doch so klar und treffend, so fein humor- und verständnisvoll wie in „Der Riese“ ist es aus dem Siepen bisher noch nicht gelungen. Vielleicht liegt das auch an der überdeutlichen Anspielung in diesem Roman, die das nicht enden wollende Wachstum von Tilman Wölzinger ja ist. Eine Anspielung, die aber nie aufdringlich wird. Denn so wie Tilman immer größer wird, aus seinem vorbestimmten, standardisierten Leben regelrecht herauswächst, spricht das auch die Unbehaustheit in fast jedem von uns an. Denn wer kennt nicht dieses Gefühl, wenn einem das eigene Leben zu eng erscheint, alles vorhersehbar und so gleichförmig und unspektakulär wirkt und man sich fragt, ob das nun alles gewesen sein soll. Gleichzeitig, und das ist eine weitere Ebene im unaufhörlichen Wachstum von Tilman Wölzinger, spielt Stefan aus dem Siepen auch mit dem Sichtbaren, das einen Menschen, gewollt oder nicht, zu einem Außenseiter machen kann. Wobei nicht dieser sichtbare Unterschied jemanden zum Außenseiter macht, sondern wie seine Mitmenschen, also wir, darauf reagieren.
Und dann ist da noch diese Ungewissheit, die vielleicht am stärksten wiegt und an der auch Tilman Wölzinger scheitert, auch wenn er die Musik und die Literatur für sich entdeckt. Die Ungewissheit, die daraus resultiert, dass einem zwar bewusst ist, dass das standardisierte und erwartbare Leben nicht mehr passt, man diesem entwachsen ist, gleichzeitig aber die Alternativen fehlen. Also das, was man tun könnte, um ein erfülltes Leben zu führen, auch wenn das von anderen misstrauisch betrachtet wird. Vielleicht ist es aber auch der fehlende Mut, den entscheidenden Schritt zu wagen. Selbst Tilman, der durch seine Größe ja gezwungen ist, sich zu verändern, fehlt dieser Mut. „Flüchtig träumte er davon, Musiker zu werden, doch musste er über sich selbst lächeln. Ein weltfremder Einfall! Dass ihm solche Gedanken überhaupt durch den Kopf gehen konnten, zeigte, wie vertrackt seine Lage war ...“
Mit „Der Riese“ führt uns Stefan aus dem Siepen eine schmerzhafte Wahrheit so klar und sprachschön vor Augen: dass der wahre Grund für unsere Unzufriedenheit, für ein weniger erfülltes Leben fast immer in uns selbst liegt.
Stefan aus dem Siepen stellt „Der Riese“ am Montag, dem 31. März, um 19 Uhr im Literaturladen Wist, Brandenburger/Ecke Dortustraße vor. Der Eintritt kostet 5 Euro
Dirk Becker
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