Kultur: Authentizität vor Ästhetik
Wie beim Klassentreffen: Buchvorstellung „Damals im Café Heider“ im al globe
Stand:
Sicher, es klingt vermessen, ein wenig nach Größenwahn: Die Verlegerin Renate Wullstein ist auf der Buchpräsentation im al globe irritierend überzeugt, die 1000 Exemplare ihres Heider-Buchs wären in den nächsten drei Wochen vergriffen. Für den Preis von 29,80 Euro. Noch dazu ohne, dass es im Buchhandel erhältlich wäre. „Da bin ich mir ganz sicher.“
Es ist fünf Uhr am Nachmittag, draußen ist es noch hell, im al globe läuft bereits der Bierhahn. Eine seltsame Zusammenkunft ist diese Präsentation. Draußen auf einem Schild steht die Zeit dafür: „14 bis 19 Uhr“. Zu viel Zeit, um ein Buch vorzustellen, aber genug für ein Klassentreffen. Heider-Zeit. „Mensch ist das lange her“, sagt eine, die damals dabei gewesen ist und blättert in Gedanken in dem weinroten Stück Potsdam-Erinnerung.
Wullsteins Selbstsicherheit kann man auch mit ihrem Verlegerstolz erklären. Wer hätte in der Stadt noch auf das Erscheinen wetten wollen? „Es sollte zuletzt am 9. November 2004 herauskommen“, sagt Wullstein. Nun, endlich in den Händen, sei es für die Herausgeberin so, als habe sie einen Preis empfangen. Sie sitzt neben dem Autoren Martin Ahrends und dem Fotografen Roger Drescher und erzählt, bei wem sie für das Buchprojekt alles um Förderung gebeten hatte. Kulturamt der Stadt, Landeszentrale für politische Bildung, Kulturministerium. Überall Fehlanzeige. Kaum je hätte sie eine Eingangsbestätigung erhalten. Niemand begeisterte sich für ihre und Martin Ahrends Idee, diese eigentümliche Stimmung aus Hinterzimmerrevolte und Kaffeehausträumerei in Buchform fest zu halten. Auch alle privaten Sponsoren, nach denen sie suchte, reagierten meist gar nicht. „Bis auf einen“, strahlt Wullstein, „Günther Jauch“. Der antwortete schon nach drei Tagen: Was da an Szene versammelt war, habe er nicht gewusst. Jauch kann sich als Geburtsvater sehen, denn ohne seine Nachfrage nach Monaten, ob er seine Förderung denn zurück verlangen müsste, wäre das Buch wohl nie entstanden. Und seine Geduld hat sich ausgezahlt. Denn das Produkt, in bewundernswürdiger Präzision für schöne Details von der Potsdamer Druckerei Rüss mit hartem Einband gefertigt, ist in vielerlei Hinsicht erstaunlich, überraschend, offenbarend. Wullstein hat Recht, wenn sie sagt, es sei ein „gutes und wichtiges“ Buch.
Es kann gleich auf mehreren Ebenen gelesen werden. Und alle sind spannend. Zunächst sind Roger Dreschers Fotos aus den Jahren zwischen 1985 bis 1987 sehr atmosphärische Milieustudien, die selbst dem Außenstehenden ermöglichen, das Klima, das „damals im Heider“ geherrscht haben mag, nachzuvollziehen. Dann ist eine Lesart nach Art eines „Potsdamer Schlüsselromans“ möglich. Für die von Ahrends klug und einfühlsam Befragten, die Zeitzeugen der 70er und 80er Jahre in Potsdam, gab es nach der Wende zwei Schicksale. Entweder man reüssierte beruflich und fand sich in einer einflussreichen Stellung wieder, oder man scheiterte als jemand, der sich dem Sog des täglichen Exzesses nicht mehr widersetzen konnte. Die Offenlegung der Vernetzungen der damaligen Abendgesellschaften hilft, die derzeitigen Strukturen in der Kulturszene besser zu verstehen. Der Eindruck von damaligen Beobachtern, da träfen sich hermetische Zirkel, ist einer, der heute in der Kultur auch öfter zu hören ist.
Ahrends Interviews können aber auch losgelöst vom Kontext der Stadt von Interesse sein. Sie beschreiben, so der Autor, die DDR „aus der Perspektive einer Gegenwelt derer, die rasanter leben wollten.“ Wer sich in die Lebensgeschichten vertieft, hat ein Stück deutscher Geschichte in der Hand, deren Verästelungen bis heute spürbar sind.
„Uns war Authentizität wichtiger als Ästhetik“, meint Ahrends. Widersprüche und sogar Unwahrheiten wären bewusst nicht vom Herausgeber korrigiert worden. So wäre der Schilderung des Betreibers Karl Heiders, seine Zimmerdecke wäre mit Abhörwanzen dicht gespickt gewesen, mit Vorsicht zu genießen.
Die Beiträge sind sehr offenherzig. „Juristisch wasserdicht“, sagt Ahrends, „ist das nicht.“ Er lobt das Vertrauen, das die Befragten ihm entgegen gebracht haben. So ist ein extrem intimes Buch gelungen.
Und warum schließt die Verlegerin Renate Wullstein Buchhandlungen wie das Internationale Buch, den Literaturladen oder die Humboldt-Buchhandlung vom Verkauf aus? Sie habe mit dem Buchhandel einfach schlechte Erfahrungen gemacht, sagt Wullstein. Martin Ahrends hilft mit einer schlüssigeren Begründung: „Du wolltest einfach die Kosten für das Buch wieder rein kriegen.“ Wullstein nickt. Matthias Hassenpflug
Zu bestellen unter: www.verlag-schwarzdruck.de; erhältlich: Hofgalerie Mittelstraße (hinter Café Guam), 13. - 20. März.
Matthias Hassenpflug
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: