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Kultur: Betörende Euphorie

Wo fängt Jazz an, wo hört er auf? Egal. Hauptsache, er macht Spaß. Und das tat er: Im Nikolaisaal ebenso wie open air

Stand:

Soul-Göttin Joy Denalane

Was muss passieren, dass der Nikolaisaal geradewegs aus dem Häuschen gerät? Welche Energie muss jemand besitzen, der mit einem Fingerschnipps fast das gesamte Publikum hochschnellen lässt, um sich dann gemeinsam im Takt des Souls zu wiegen. Es ist ein zartes Persönchen mit einem enormen Sexappeal und einer noch gewaltigeren Stimme, die am Freitag Abend zum Auftakt des Jazzfestivals wie eine Magierin die Fäden der Emotionen zu ziehen versteht.

Zuerst betritt ihre vierköpfige Band die Bühne: mit hängenden Jeans , Basecap – und der Bassist mit Rastas bis zum Po. Das dann einmarschierende Filmorchester Babelsberg in schwarz-weißer Festrobe bietet das gediegene Kontrastprogramm. Diese optische Kluft ist wie weggeblasen, wenn die Instrumente zusammen kommen und Joy Denalane mit wiegenden Hüften und seelenvoller Stimme ihr erstes Lied erklingen lässt. „Change“ ist der Anheizer, und auch wieder nicht. Denn man muss in diesem Konzert nicht erst warm werden. Wie im Märchen vom Süßen Brei nehmen im Nu die bekömmlichen musikalischen Leckerbissen den ganzen Saal ein – ohne auf der Zunge zu kleben. Denn nichts wirkt aufgesetzt und angeschafft, die Sängerin weiß, wovon sie „spricht“: von der Hoffnung, die sie hat, dass es in der Welt irgendwann gerechter zugeht, von den Möglichkeiten und Gefahren der Liebe, von dem Spagat, den sie als Mutter von zwei kleinen Jungs und als reisende Künstlerin immer wieder zu nehmen hat. Und von dem verflixten Siebten Jahr, das aber längst hinter ihr liegt. Ihr Mann Max Herre, mit dem sie einst bei Freundeskreis sang, steht im Gang des Saals und fotografiert die Show seiner Power-Frau. Joy zeigt strahlend auf ihn und singt auch ihre Verwandten in der ersten Reihe offenherzig an. Es ist wie ein großes Familienfest, bei dem alle gern dabei sind.

„Die Göttin des Souls“, wie Joy Denalane zu Recht genannt wird, hat einen Schnitt gemacht, ist auf ihrer neuen CD Born & Raised von der deutschen Sprache ins Englische rübergerutscht. Und es bekommt den Songs sehr gut. Erst im Vergleich spürt man, dass deutsche Wörter doch recht kantig sein können, sollen sie behutsam modelliert in allen Höhen und Tiefen mitgenommen werden. Joy Denalane durchschreitet mit Haut und Haaren das Reich der Gefühle: trumpft selbstsicher auf, hört leise in sich hinein und scheut sich nicht, Verletzungen herauszuschreien. Aufgewachsen in Berlin-Kreuzberg im Schatten der Mauer, mit väterlichen Wurzeln im südafrikanischen Soweto, hinterließ die Welt in ihr deutliche Spuren, machte sie kompromissloser, aber auch reifer und weicher. Joy Denalane strahlt aus sich selbst heraus und ganz viel von ihrer Kraft springt an diesem Abend auf das Publikum über. Es ist keine Solo-Show, in der die Diva allein regiert. Sie schenkt allen auf der Bühne ihre Auferksamkeit und bekommt ebenso viel zurück. Wie vom Filmorchester und seinem Leiter Scott Lawton, der allerdings besser musizieren als tanzen kann. Oder von Josh David, der mit seinem Gesang das Flair Bob Marleys herauf beschwört.

Was passieren muss, um den Nikolaisaal aus dem Häuschen zu bringen? Joy Denalane auf die Bühne stellen und sie einfach machen lassen. Gesellen sich gute Freunde dazu, wird es ein Fest.

Heidi Jäger



Jazz am Brandenburger Tor

Beständig bedrohten dunkle Wolken das Potsdamer Jazzfestival und seine Besucher am Sonnabend, doch letztlich wagten sie nicht, diese Veranstaltung zu verwässern. Bürgermeister Burkhard Exner begrüßt am Nachmittag das bunt gemischte Publikum. Familien, ältere Gäste, Jugendliche – bei „Jazz am Tor“ vor dem Brandenburger Tor findet sich eine Melange, die man sonst selten zusammen auf Konzerten antrifft. Der „Caribbean Marching Band“ gelingt es, ein erstes Stimmungshoch mit ihren impulsiven und mitreißenden Trommel-Grooves zu erzeugen. Zuvor machten sie ihrem Namen alle Ehre und „marschierten“, ausgehend vom Karstadt Stadtpalais mit ihren Trommeln und Fässern behangen, lautstark durch die Innenstadt.

Auf der Bühne am Brandenburger Tor wird es voll: Das Berliner Jugend Jazzorchester wartet im Big Band-Format mit modern arrangierter Swing-Musik auf, bringt aber auch neue Kompositionen wie Frank Fosters „Dayspring“ zu Gehör. Vor der Bühne unternehmen ganz Kleine den Versuch, aus ihren ersten Schritten Tanzfiguren zu machen. Auch die älteren Gäste scheinen mit den modernen Arrangements der alten Klassiker zufrieden zu sein. Viel Laufkundschaft verharrt einige Titel auf dem Platz und stürzt sich dann wieder in die Einkaufs- und Cafémeile der Brandenburger Straße.

Die Berliner Band „Shoot the moon“ hat anschließend einige Mühe, die Stühle und Bänke besetzt zu halten. „Wo fängt Jazz an? Wo hört Jazz auf?“, hat Organisator Jürgen Börner bei der Ankündigung der Gruppe noch in den Raum gestellt. „Shoot the moon“ lassen musikalisch keinen Anfang und kein Ende erkennen: Versatzstücke und Zitate längst vergangener Jazzjahre mischen sich in ihre eigenen Stücke, die mal an Folklore, mal an eine Kreuzung im Berufsverkehr erinnern. Wenn sie es ganz bunt treiben, unternehmen sie Ausflüge in den Free Jazz, auf die aber nicht alle Besucher mitkommen wollen.

Am Abend wird die Bekleidung der Gäste dicker und viellagiger. Die frische Luft kommt beim Julia Hülsmann Trio, verstärkt durch den Sänger Daniel Mattar, jedenfalls ordentlich in Wallung. Die Reihen sind gut gefüllt und die Band kann sogar einige Leute zum Tanzen animieren. Abwechselnd am Flügel und am Synthesizer dirigiert Hülsmann ihre Mannen durch das abwechslungsreiche Set. Mattar springt dabei durch Oktaven und Facetten und reißt das Publikum mit seinen gesungenen Gitarren-Soli ein ums andere Mal mit.

Aber leider kennt der Lärmschutz auch bei diesen Talenten keine Ausnahme. So verhallt um 22 Uhr der letzte Ton aus dem satten Flügel von Hülsmann im Bogen des Tores. Christoph Henkel

The Voice in Concert

Der Wuschelkopf, der da schüchtern die kleine Bühne im Foyer des Nikolaisaals betritt, könnte auch der Gitarrenstimmer sein. Unsicher zupft er ein paar Töne. Dann legt sich seine Stimme sanft dazu und es ist klar: Nein, es ist ganz sicher nicht der Gitarrenstimmer. Gabriel Gordon macht den Anfang bei der samstäglichen Festivalnacht der beliebten Konzertreihe „The Voice in Concert“. „Can you feel it?“ singt Gordon in trauter Zweisamkeit mit seiner Gitarre und die Zuschauer antworten mit brausendem Beifall. Fast möchte man seine Bandkollegen von der Bühne scheuchen, die nach diesem wundervoll intimen Einstieg die Bühne betreten. Doch sie vergiften diesen vokalen Brunnen nicht, sondern ordnen sich sanft den Jazzbesen schwingend und beherzt die Gitarrensaiten streichelnd unter. Mit souligem Timbre versehen, ist Gordons Stimme eigentlich dazu auserkoren, das Herz mit Songs über Liebes- und Lebensschmerz zu rühren. Doch Gordon denkt gar nicht daran und gibt sich lieber den optimistischen Tönen hin.

Es sind keine virtuosen Klänge, die Gordon seiner Gitarre entlockt, das ist Aufgabe seines kongenialen Sidekicks Fontaine Burnett. Gordon zupft sich durch minimalistische Kadenzen, rührige Flageoletts und schnarrende Basssaiten. „Overwhelmed“ heißt sein aktuelles Album, „überwältigt“ – irgendwie passend.

Das Publikum zieht anschließend weiter in den großen Saal, wo sie sich verstreut in den Reihen sitzend etwas verlieren. Doch das lettische A-cappella-Sextett „Cosmos“ bringt alle Zuschauer wieder zusammen auf einen Nenner, der totale Begeisterung lautet. Man kann die Herzen der Frauen im Saal regelrecht auf die Bühne flattern sehen, wie die adretten jungen Herren da ganz in Weiß auf die Bühne spazieren. Beim Eurovision Song Contest holten die Jungs in diesem Jahr läppische 30 Punkte und landeten weit abgeschlagen hinter finnischen Horrorrockern und schmalzigen Liebesabtörnern. Den Nikolaisaal erobern sie im vokalen Sturm. Es ist kein abgestandener „ba-bab-ba-du“ - Gesang, wie so oft bei solchen Gruppen, sondern eine ausgefuchste und perfekt aufeinander abgestimmte Mischung.

Auf lettisch singen sie mit „Sena dziesma“ traditionelles Liedgut aus ihrer Heimat, die Zuschauer wiegen mit. „Cosmos“ geben den Veitstanz von Genesis „I can“t dance“ wieder und staksen dabei über die Bühne wie Phil Collins und seine Mannen Anfang der Neunziger. Nach Michael Jacksons „Billie Jean“ gibt es stehende Ovationen für die modernen Sängerknaben und den mit originalgetreuer Intonation wiedergegeben Leadgesang. Der Beatmacher von „Cosmos“ Reinis Sejans zeigt ein weiteres Talent: effektvoll imitiert er den berühmten „Moondance“ des „King of Pop“ und provoziert, dass den jungen Frauen in der ersten Reihe glucksende Laute der Euphorie entfleuchen. Dieser Freudentaumel der emotionalisierten Zuschauer kann durch Fredrika Stahl im Foyer und Onejiru, die zeitgleich im Studiosaal spielt, schwerlich fortgesetzt werden. Stahl gibt soliden, aber im Gesamtbild etwas farblosen Jazzpop, der – vielleicht liegt es an ihren Pfennigabsätzen – unbeweglich im Foyer verhallt. Das vermag auch der Gitarrist mit seinen locker-fluffig gespielten Soli nicht zu ändern.

Zeitgleich müht sich Onejiru im Studiosaal ab, gegen die wuchtige Wand, die ihre Bandkollegen hinter ihr aufbauen, anzuschreien. Und scheitert. Nur wenn ihre Jungs ihr mal ein wenig Raum geben und ein zurückhaltener Groove, den Teppich für einige Gitarrenspielchen und Bassläufe gibt, entfaltet sich auch Onejirus Stimme. Dann muss man sogar an die Dub-Aufnahmen von Portishead denken und ist verzückt von Onejirus kräftigem Organ. Aber schon bricht eine House-artige Beatwelle von hinten über sie herein und verschlingt sie mitsamt all ihrer vokalen Kraft. Christoph Henkel

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