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Kultur: Bittsteller im eigenen Land

Der Publizist Udo Scheer aus Jena über „Die Strahlkraft der DDR“ in der „arche“

Stand:

Als man die Deutsche Demokratische Republik noch Jahre nach dem Aus mit Begriffen wie Unrechtsstaat, Diktatur oder Stasi-Paradies abtun wollte, merkten auch die Klügsten, dass diese Art bei den Hiesigen höchstens kontraproduktiv ankam. Eine große Anzahl ehemaliger DDR-Bewohner meinen noch heute, dieselbe hätte mehr gute als schlechte Seiten gehabt, fast vier Fünftel halten „den Sozialismus“ für eine gute, nur miserabel ausgeführte Idee. Eine von Staats wegen eingesetzte Kommission riet damals der Macht, sich fortan mehr auf den Alltag dieses Landes zu konzentrieren. „Normalität wurde zum Kampfwort“, sagte der Publizist Udo Scheer, als er seinen „arche“-Vortrag über den „Alltag in der DDR und seine Strahlkraft heute“ begann.

Im Westen geboren, siedelte er in den Fünfzigern mit seinen Eltern in den Osten über, wurde in Jena Konstrukteur für Konsumgüter und Bürgerrechtler an der Seite des Schriftstellers und DDR-Erzfeindes Jürgen Fuchs.

Es wurde diesmal ein leiser, kluger und lehrreicher Abend, auch wenn die rhetorische Eingangsfrage – „War die DDR ein normaler Staat oder ein menschenverachtendes Regime?“ – im vollbesetzten Raum nicht gerade überzeugte. Der Referent redete aus eigenem Erleben, und er meinte es ehrlich: Auf der einen Seite das staatliche Machtmonopol mit Mauertoten, politischen Häftlingen, Freikäufen, Todesurteilen und dem ungeheuren Sicherheitsapparat, andererseits – der Alltag. „Ja, wir haben gearbeitet“, sagte er, „und waren stolz auf unsere eigene Lebensleistung, gerade weil sie trotz vieler Mängel möglich wurde“.

Und dann kamen nach der Wende welche, die alles wegwischen wollten. So entstand, für Rechte wie für Linke gleichermaßen interessant, eine Art „Abwehrhaltung gegen diese Entwertung“. Ja, es gab Solidarität untereinander, das einheitliche Bildungssystem, Brigaden, ein Gefühl sozialer Geborgenheit, das kostenlose Gesundheitssystem für alle, fuhr er fort – erinnere man sich nicht zuerst an das Schöne? Indem er nun die „Einzelteile“ der Gesellschaft durcharbeitete, Wirtschaft, Umwelt oder Versorgung, kritisierte er sie zugleich: so sei die Landwirtschaft das einzig Funktionierende in der Planwirtschaft gewesen, indes die Industrie staatliche Vorgaben gar nicht erfüllen konnte, weil man ihr dauernd kommunale Aufgaben übertrug. Immerhin, „Arbeit war das zentrale Thema in der DDR“.

Viel Raum widmete er dann dem extremen Sicherheitsbedürfnis im Alltag der geschlossenen Gesellschaft DDR. Wenn heute über neunzig Prozent der Befragten meinen, in der DDR habe man doch „ganz gut leben können“, wird Scheer traurig: „Sie haben die Bilder von 1989 vergessen!“ Sein Fazit: Trotz solcher Strahlkraft bloß kein zweiter Versuch! Eine „Gesellschaft der Gleichen“ grenze automatisch andere aus, Planwirtschaft funktioniere so wenig wie „demokratischer Sozialismus“, und solange ein realer Sozialismus seine Bürger in den alltäglichsten Dingen zu Bittstellern erniedrigen kann, sei das sowieso indiskutabel. Dieses Modell verlangte Millionen Opfer, funktioniert hat es nirgends.

Des Referenten persönlicher „Heilsweg“ heißt (trotz Konrad-Adenauer-Stiftung als Co-Veranstalter) „soziale Demokratie“. Mit dieser Tautologie glaubt er sogar das Kapital bändigen zu können. Merkwürdig, anderenorts definierte er Demokratie nach Oswald Spengler völlig rechtens als „Geldherrschaft“! Ein langer Erfahrungsaustausch über persönliche Alltage folgte ohne Nostalgie und fanatischem Eifer. Gerold Paul

Am 27. Januar, 19.30Uhr spricht Angelika Glaß vom Familiennetzwerk Berlin zum Thema „Keine Bildung ohne Bindung“, arche, Am Bassin 2

Gerold PaulD

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