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Kultur: Bloß raus aus dieser Hölle
„Abgehauen“ – Grit Poppes neuer Jugendroman über den Jugendwerkhof in Torgau
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Sie ist wieder hinabgestiegen in den Keller, in das schwarze Nichts. Dort unten, wo sie Gonzo zurückgelassen hatte. Kalte, feuchte Wände, ein faulig-verdorbener Geruch, wie vom Kadaver eines Tieres. Hier unten im Keller von Torgau, in den das Mädchen Gonzo gesperrt wurde, weil sie sich immer noch widersetzte, sich nicht fügen wollte. In einem lichtlosen Rattenloch, einer vom Menschen geschaffenen Vorhölle, sollte Gonzos Willen gebrochen, ihr Schicksal vergessen werden. Doch Grit Poppe ist wieder zu ihr hinabgestiegen, um in „Abgehauen“ die Geschichte dieses Mädchens zu erzählen. Am heutigen Dienstag stellt Grit Poppe ihren Roman, der als Fortsetzung von „Weggesperrt“ gelesen werden kann, in der Villa Quandt vor.
Vor drei Jahren hatte die Potsdamer Schriftstellerin Grit Poppe den Jugendroman „Weggesperrt“ veröffentlicht. Erzählt wird die Geschichte der 14-jährigen Anja. Deren Mutter ist mit der Politik, dem offiziellen Gesellschaftsbild in der DDR nicht einverstanden. Als sie 1988 einen Ausreiseantrag stellt, werden Mutter und Tochter von der Staatssicherheit abgeholt und voneinander getrennt. Anja wird in ein Durchgangsheim gesteckt, wo sie Gonzo kennenlernt. Ihre Mutter erfährt nichts über den Verbleib ihrer Tochter. Aber Anja ist wie ihre Mutter. Spürt sie Ungerechtigkeit, widersetzt sie sich. Ihre Aufsässigkeit bringt sie in den geschlossenen Jugendwerkhof in Torgau, die Endstation in Sachen verschärfter Kinderheime in der DDR. Hier trifft sie ihre Freundin Gonzo aus dem Übergangsheim wieder. Dort gelingt ihr endgültig die Flucht aus einem so rigiden und nur noch tollwütigen System, das wenige Woche später, im Wendeherbst 89, in sich zusammenbricht.
Mit „Weggesperrt“ hat Grit Poppe nicht nur einen spannungs- und gefühlvollen, sondern auch abgründigen Roman über eine der dunklen Seiten in der DDR erzählt. Ein Roman, der für Jugendliche deklariert, aber auch von jedem Erwachsenen gelesen werden sollte. Mit „Weggesperrt“ hat Grit Poppe einem Teil der über 4000 Jugendlichen, die zwischen 1964 und 1989 in Torgau eingesperrt waren, eine Stimme gegeben, um über ihre Erfahrungen, ihre Traumata reden zu können.
Weil die DDR im Geschichtsunterricht ihrer beiden eigenen Kinder kaum vorkam, hat sich Grit Poppe in das Thema von sogenannten schwererziehbaren Kindern in der DDR und den Umgang mit ihnen eingearbeitet. Was sich ihr offenbarte, war ein flächendeckendes System von Heimen, in denen diese Problemfallkinder zum guten, sozialistischen Bürger erzogen werden sollten. Neben zahlreichen Übergangs- und Schwererziehbarenheimen gab es in der DDR insgesamt 32 offene Jugendwerkhöfe. Wer hier immer noch Widerstand leistete, der kam nach Torgau, in den einzigen geschlossenen Jugendwerkhof.
Grit Pope hat in den vergangenen zwei Jahren viele Lesereisen unternommen. Mit dabei fast immer Zeitzeugen, die von ihren Erfahrungen in Torgau berichteten. Grit Poppe, die anfangs nur einen Jugendroman schreiben wollte, ist in dieser Zeit so etwas wie eine inoffizielle Anlaufstelle für ehemalige Torgau-Häftlinge geworden. Häftlinge, weil Torgau kein Heim mehr, sondern ein Gefängnis für Kinder und Jugendliche war. Sie spricht mit den Betroffenen, schreibt ihnen, hört ihnen am Telefon zu. Und es sind fast immer ähnliche Geschichten, die sie hören muss.
Dass da nach der Lektüre ihres Romans bei den Betroffenen nach Jahrzehnten plötzlich etwas aufbricht, eine Sprache und Geschichte bekommt, das so lange notdürftig verkapselt im Inneren der Betroffenen existierte. Für die meisten ist die Rückkehr dieser Erinnerungen so heftig, dass es sie Tage aus dem Alltag reißt.
Regelmäßig trifft sich Grit Poppe mit den Ehemaligen, wie sie sich selbst nennen, und besucht mit ihnen den ehemaligen Jugendwerkhof in Torgau, der zur Gedenkstätte geworden ist. Manche können dann doch nicht durch die Tür treten, manche halten es nur wenige Minuten dort aus. Dass sie sich nun entschlossen hat, einen zweiten Roman zu schreiben und die Geschichte von Gonzo weiterzuerzählen, ist aber nicht allein diesen Erfahrungen geschuldet. Immer wieder war Grit Poppe auf ihren Lesereisen von Schülern gefragt worden, was denn aus Gonzo geworden sei, die dort unten im Keller von Torgau, im Dunkelarrest, zurückgeblieben war.
Im vergangenen Jahr war „Weggesperrt“ in Baden-Württemberg Prüfungsthema an den Realschulen. Grit Poppe erinnert sich an sehr intensive und gewinnbringende Gespräche. Aber auch an die wiederholten Fragen nach Gonzo. „Ich hatte mir dann schon eine Geschichte ausgedacht, wie es mit ihr weitergeht“, sagt Grit Poppe. Aus dieser Geschichte ist „Abgehauen“ entstanden, wieder ein Roman voller starker Szenen, spannend, packend und abgründig. In diesem Roman sind auch die Erfahrungen aus den Zeitzeugengesprächen, die Ergebnisse ihrer Recherchen eingeflossen. Das perfide Erziehungssystem der DDR, das in dem geschlossenen Jugendwerkhof Torgau gipfelte, ist für sie zu einer Art Lebensthema geworden. Nach „Weggesperrt“ hat sie mit „Abgehauen“ einen weiteren beeindruckenden Roman über die Abgründe in Torgau, über das, was eine solche Willkür, solche Brutalität in den Menschen hinterlässt, geschrieben. Es sind nicht nur starke Bücher, es sind auch klare Signale gegen ein Schweigen, das bei diesem Thema immer noch zu viel zu mächtig ist.
Grit Poppe stellt „Abgehauen“ (Dressler Verlag, 9,95 Euro) am heutigen Dienstag, 20 Uhr, in der Villa Quandt in der Großen Weinmeisterstraße 46/47 zusammen mit dem Zeitzeugen Jens Hase vor. Der Eintritt kostet 6, ermäßigt 4 Euro. Kartenreservierung unter Tel.: (0331) 280 41 03
Dirk Becker
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