Kultur: Blut in die Neue Musik gepumpt Das Kammerorchester
im Nikolaisaal
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Die Kammerakademie Potsdam (KAP) ist nicht einfach nur ein notenpflegendes Ensemble wie viele andere. Die Musiker Bettina Lange, Friedemann Werzlau und Tobias Lampelzammer treibt ein anderer Geist um. Natürlich wurde am Donnerstagabend auch Klassisches gegeben – und wie! Zugleich öffnete man sich der Neuen Musik, den Kindern, probierte Veranstaltungsformen jenseits der Norm. Die Musiker wollten etwas vom Publikum und hatten auch etwas zu sagen.
Die Reihe KAPmodern im Nikolaisaal-Foyer ist besonders avantgardistisch, hier geht es um nichts weniger, als der zeitgenössischen Musik ihre Kopflastigkeit, ihre Blutarmut zu nehmen. Das funktioniert hervorragend, die jüngste Ausgabe am Donnerstag mit dem Titel „Kopfkino“ war so gut wie ausverkauft. „Kopfkino“ meint einerseits die bei der Musik im Kopf entstehenden Bilder , zum Beispiel Morton Feldmans „Mary Ann´s Theme“, ein Kunstwerk aus ganz langsamen pianissimo-Klängen. Ursprünglich war es für den Film „Something Wild“ komponiert, wurde aber gerade deshalb abgelehnt: In Jack Garfeins Film aus den Sechzigerjahren ging es schließlich um eine Vergewaltigung. „Score for Untitled Film“ für Flöte, Trompete, Horn und Cello stammt aus derselben Zeit, doch hier arbeitete Feldman minimalistisch. Manche Figuren bestehen nur aus zwei Tönen, die variiert werden. Langsame Tempi, düstere Stimmung – dieses Stück erhielt wenig Beifall.
„Road Movies“ (1995) von John Adams bezieht sich auf das bekannte Filmgenre früherer Jahre. Wahnsinn, im ersten Satz hämmert der Flügel turbomäßig, im zweiten träumt sich die Geige in ständigen Reprisen die lyrischsten Bilder, der dritte Satz hält über mehr als 200 Takte die alerten Sechzehntelbewegungen am Laufen. Verrückt!
John Zorns Komposition von der neunschwänzigen Katze, im Original „cat o´ nine tails“, für Streichquartett (1988) ist eine wohl überlegte Melange aus kurzen Stücken und Zitaten unterschiedlichster Bauart. Country, Swing, Wiehern und Grunzen vom Bauernhof machen dieses Opus auch als Kopfkino angenehm heiter. Prodromos Symeonidis zelebrierte Mauricio Kagels „MM51 - ein Stück Filmmusik für Klavier“ (1976) im Widerstreit gegen ein Metronom fast theaterreif. Ein Spot warf den Schatten seines Kopfes an die Kinoleinwand. Dort flimmerte anschließend der avantgardistische „Film für übers Sofa“ von Hannes Seidl und Daniel Kötter. Für die Hör-, aber nicht Sichtbarmachung von Seidls „Musik zum Original Motion Picture Soundtrack“ (2004) wurden die Musiker samt Zuspielelektronik hinter die Leinwand verbannt. Ein chaotisch wirkender Soundtrack als Komposition, das geht schon mal. Und noch ein Film, jetzt für „ludwig van“ – Kagels persönliche Hommage an Beethoven „in beliebiger Besetzung“. Er zeigt ein Zimmer, dessen Gegenstände mit Partiturfetzen des Bonners beklebt sind. Die Musiker zitieren bruckstückhaft aus dessen großen und kleineren Werken, vielleicht ein wenig zu viel. Kagel liebte das Fragment.
Ein anregender Abend, fern der Genusswut des Bildungsbürgers. Vielleicht hat KAPmodern nicht die kantigste Literatur ausgewählt, aber hier ging es ja um den Film. Man ging heim mit der Erkenntnis, dass die Neue Musik hörbarer wird, je lockerer man sie spielt. Bravo, bravissimo! Gerold Paul
Das nächste Mal spielt die Kammerakademie Potsdam am 19. März im Nikolaisaal. „Zwischen Glaube und Erkenntnis. Andere Wirklichkeiten“ heißt das Programm, Beginn ist um 20.15 Uhr, Karten kosten 15 Euro
Gerold Paul
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