Kultur: Blutrache
Sabine Adler las über Schwarze Witwen
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Erst zwei Jahre ist es her, seit die erschütternden Bilder von der Besetzung der Schule im nordossetischen Beslan um die Welt gingen. Noch mal zwei Jahre vorher spielte sich im Moskauer Nord-Ost-Theater ein 56-stündiges Drama ab, bei dem 115 Geiseln und die meisten der Geiselnehmer starben. Unter ihnen nicht wenige so genannte „Schwarze Witwen", zumeist junge Frauen, die das archaische Gesetz der Blutrache erfüllten. Die Rundfunkjournalistin Sabine Adler, die fast fünf Jahre für „Deutschlandradio“ aus Russland und auch aus Tschetschenien berichtete, hat die Schwester zweier Selbstmordattentäterinnen im Herbst 2003 getroffen und sich ihre Geschichte erzählen lassen.
Am Mittwochabend las sie im Kunstraum, in der aktuellen Ausstellung des tschetschenischen Fotografen Musa Sadulajew, aus ihrem Buch „Ich sollte als schwarze Witwe sterben“. Sabine Adler hatte die damals 19-jährige Raissa im russischen Fernsehen gesehen, als diese die Besatzer angeblich um Schutz vor ihren eigenen Brüdern bat. Denn die wollten auch sie, nachdem ihre zwei Schwestern bereits den Märtyrertod gestorben waren, ebenfalls rekrutieren. Adler traute den offiziellen Verlautbarungen nicht, versuchte, selbst ein Treffen zu arrangieren und konnte wenig später über eine „begleitete“ Journalistenreise den Kontakt zu der jungen Frau in Grosny herstellen. Leider nur einmalig.
Aber das Schicksal der jungen Tschetschenin und ihrer Schwestern hat sie sehr bewegt, denn es zeigte ihr wie in einem Brennglas die Krux des leidgeprüften Volkes. Die Schwestern Raissas, Medina und Heda sind unzertrennlich. Als Medina nach tschetschenischer Sitte verheiratet wird, begleitet sie ihre Schwester in die neue Familie des Mannes. Dieser kommt kurz darauf im Kampf gegen die russischen Besatzer ums Leben. Seine schwangere Witwe soll nach dem Willen ihres eigenen Bruders den Ehemann rächen.
In eindrücklichen Worten schilderte die engagierte deutsche Journalistin das Schicksal dieser Frauen, aus dem es für die meisten auch heute kein Entrinnen gibt. Denn auch Raissa, obwohl mit dem Leben davongekommen, wurde von russischen Soldaten interniert, musste die Zerbombung ihres Elternhauses erleben und lebt seit zwei Jahren mit einer neuen geheimen Identität in Russland. Adlers Buch, das sich fast wie ein Roman liest, jedoch auf einer Fülle von Fakten beruht, zeigt eindringlich, die nicht enden wollende Gewaltspirale und auch einmal mehr die Erbarmungslosigkeit dieses Krieges besonders gegenüber Frauen. Erschütternd erzählt am Leidensweg der Ukrainerin Schura, die ebenfalls im Moskauer Musicaltheater ihr Leben ließ.
Die Lesung ergänzte die überaus sehenswerte Fotoausstellung „Verschlusssache Tschetschenien“, in der auf vielen Bildern die große Stärke und der enorme Überlebenswille des so genannten „schwachen Geschlechts“ dokumentiert wird. Zum Abschluss stand die Journalistin den nicht gerade zahlreich erschienenen, aber dafür sehr interessierten Zuhörern noch Rede und Antwort über einen schwelenden Konflikt, der längst aus den Schlagzeilen verschwunden ist.
Nächste Veranstaltung innerhalb der Ausstellung am 10. Oktober: der Film „Weiße Raben“ von Tamara Trampe, in Anwesenheit der Regisseurin, der tschetschenischen Menschenrechtlerin Taita Junusova und dem ehemaligen ARD-Korrespondenten Gerd Ruge.
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