
© M. Thomas
Kultur: Bröckelnde Fassaden im goldenen Herbst
Die Galerie am Jägertor zeigt Häuserporträts und Dorfbilder von Barbara Raetsch
Stand:
Es sind große Sprünge. Und doch wirkt alles homogen, wie in einem breiten Lebensfluss mit Inseln und Strömungen. Die Malerin Barbara Raetsch ist freier geworden, impulsiver. Dennoch gehören auch die braven Potsdam-Veduten, die sie vor über 30 Jahren malte, fest zu ihrem Schaffen dazu. Es ist keine Kluft, eher ein langsames, immer wieder neues Ablegen, das ihre Arbeit ausmacht.
Da hängen die dunkeläugig hohlwangigen Porträts der Abrisshäuser neben den satten „Gelblingen“, die die Ernte des Sommer einfahren. Ein geradezu farbenfroh juchzendes „Freudenhaus“ im aufreizenden Rot reibt sich an den strengen dunklen Klostermauern, die trotz der Düsternis einen kleinen Spalt offen lassen, um hinauszutreten. Hinaus, um weiter zu leben. Gerade dieses schlichte, fast unauffällige Bild von Barbara Raetsch erzählt viel über ihre vergangenen Jahre. Über den Tod ihres Mannes Karl Raetsch im Jahr 2004, der im Hospiz hinter den Klostermauern von Lehnin seine letzten Stunden verbrachte. Inzwischen hat die Malerin, die vor fast 60 Jahren von ihrem Mann inspiriert wurde, sich selbst auf das Wagnis Kunst einzulassen, ihre Lebensenergie wiedergefunden. Ja, man könnte meinen, sie sei wilder, energischer und unangepasster als je zuvor.
Der Galeristin Kornelia Tappe ist es gelungen, zwischen den Mal- und Lebensphasen zu vermitteln. So schaut man sich durch ein pralles Lebenswerk und sieht darin auch immer die Stadt Potsdam, die der Dresdnerin seit 1958 Heimat ist. Hier hat sie ihren beiden Söhne Bruno und Robert zur Welt gebracht, hier hat sie mit ihrem Mann das Atelier in der Kapelle Hermannswerder zu einem kleinen Kunstrefugium ausgebaut, das inzwischen der Bildhauer Robert Raetsch weiter betreibt. Und hier in Potsdam hat sie sich durch die Straßenzüge gemalt, die sie gerade vor der Wende mit ihrem morbiden Charme der Vergänglichkeit so magisch anzogen. In einem Video, das die Galeristin in der Atelierwohnung der Malerin gedreht hat und das in der Galerie am Jägertor läuft, gibt Barbara Raetsch in ihrer offenherzig unverkrampften Art über sich Auskunft: wie sie das erste Mal staunend im Atelier ihres Mannes auf den Brühlschen Terrassen in Dresden stand und wie sie später in Potsdam selbst ihre ersten malerischen Versuche unternahm. Sie erinnert sich, wie sie nach Zehdenick fuhren, um Rundöfen zu zeichnen, und wie ihr Mann sie ermunterte: „Du kannst es“. Als Autodidaktin malte sie drauflos, in Karl Raetsch den besten Lehrer an ihrer Seite. Schließlich fand sie ihr ganz eigenes Sujet: die bröckelnden Fassaden in Potsdams Innenstadt. Wo heute das Fischrestaurant „Der Butt“ herausgeputzt sein Domizil hat, gab es vor der Wende nur noch ein Fassadenskelett, das wie eine Theaterkulisse anmutete. Barbara Raetschs Bilder sind auch Heimatgeschichte: sensibel eingefangene Stimmungen eines untergehenden Landes. Ihr Bild von der friedlichen Demonstration 1989 durch Potsdams Innenstadt hat gerade das Potsdam-Museum angekauft. Auch andere Bilder der Ausstellung tragen bereits rote Punkte.
Als nach der Wende die Fassaden restauriert und glatter wurden, konnte Barbara Raetsch nur noch wenig mit ihnen anfangen. Sie stürzte sich auf die Besetzerhäuser als letzte Ausrufezeichen des Zerfalls und Widerstands. Dann zog es sie hinaus, in einsame Dörfer, hinein in den goldenen Herbst. Und da hängen sie nun. ihre sonnengetränkten Bilder, die in jedem Licht eine neue Geschichte zu erzählen haben, die vibrieren und zugleich Ruhe ausstrahlen. Und die jetzt auch auf die dunklen Fassaden abstrahlen.
Heidi Jäger
Zu sehen in der Galerie am Jägertor, Mittwoch bis Samstag, 14 bis 18 Uhr, Lindenstraße 64
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