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Kultur: Brodelndes Seelenlabyrinth

Anton Tschechows Tragikomödie „Die Möwe“ hatte am Hans Otto Theater Premiere

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Ihre Schwingen sind weit ausgebreitet: wie zu einem großen Flug. Doch diese Möwe wird nicht mehr abheben. Ausgestopft steht sie auf dem Schreibtisch und symbolisiert die gestutzten Träume und unerfüllten Sehnsüchte der so unheilvoll miteinander verquickten „Tschechow-Familie“. Die im Hans Otto Theater aufgeführte Inszenierung „Die Möwe“ in der Regie von Uwe-Eric Laufenberg, die am Donnerstag Premiere hatte, zieht wie ein Strudel in die Lebensgeschichten hinein: anfangs wohltemperiert im Wechsel von leisen innigen Momenten und grotesken Überzeichnungen. Schließlich in der tragischen Zuspitzung von Selbstaufgabe und innerer Isolation, die Beklemmung und Betroffenheit auslösen. Das Unheil verkündende stille Wasser, das die Bühne sinnreich überzieht (Christoph Schubiger), zeigt sich wahrlich tief.

Im Epilog gibt es allerdings noch ein heilloses, oberflächliches Durcheinander – von überall stürmen die Protagonisten auf die Bühne herein. Zum Glück öffnet sich alsbald der Vorhang hinterm Vorhang: denn es wird Theater im Theater gespielt. Kostjas wagemutiger Gegenentwurf zum traditionellen Schauspiel gelangt zur Aufführung. Er zeichnet eine dramatische Untergangsstimmung, die so gar nicht in das Bild des Publikums passt. Von allen Seiten erntet der hochsensible, wütende und selbstzweifelnde Schöngeist Ablehnung und Ignoranz für seine „moderne Brühe“: selbst von seiner eigenen Mutter, Irina.

Und schon sind wir mitten drin in einem der zahlreichen Konflikte dieses feingesponnenen Tschechowschen Seelenlabyrinths, das von dem verstorbenen Lebensgefährten Katharina Thalbachs, Thomas Brasch, schnörkellos schön und heutig übertragen wurde. Und die kraftvolle Katharina Thalbach spielt nun darin souverän, mit weiblichem Charme und galligem Eifer, diese hochgradig egozentrische Irina: eine dem Ruhm nachlaufende Schauspielerin, um die sich alles zu drehen hat. Doch ihr Sohn bietet ihr paroli, sagt ihr auf den Kopf zu, dass sie aus Angst vor dem Alter geradezu erzittert. Verletzungen hier, Verletzungen dort. Jeder ist mit seinem Schmerz allein, obwohl sich doch alle nur Liebe und den großen Applaus wünschen.

Die Protagonisten des kurzweiligen und doch tieflotenden Abends wissen ihre Rollen vielschichtig zu füllen und überzeugen mit einer geschlossenen Ensembleleistung. Jennipher Antoni gibt mit Rastazöpfen, Piercings und schwarzen Klamotten (Jessica Karge nahm mit ihren Kostümen die Aktualität der Inszenierung auf) anfangs das Enfant terrible, das sich später zwar in die glücklose Ehe mit dem Lehrer (Christian Klischat) hinein begibt, aber dennoch aus ihrem Herzen keine Mördergrube macht. Sie bleibt zwischen Verweigerung und äußerer Angepasstheit immer noch am ehrlichsten. So wie der alte Sorin, dessen Sommerhaus am See Treff der Künstler in den Theaterferien ist. Bei ihm kann man sich ausheulen, er findet klare Worte: Eine erfrischende, schauspielerische Leistung des Sänger-Darstellers Helmut G. Fritzsch.

Besonders eindringlich und dennoch in schlichter Nuancierung wissen Roland Kuchenbuch als Arzt und Michael Scherff als Trigorin, dem Liebhaber Irinas, ihre Figuren auszuschreiten. Der lange Dialog zwischen Trigorin und der blutjungen Nina, die so gern auch die Meriten des Schauspielhimmels erklimmen möchte und den reifen Literaten erotisiert, ist voller Spannung. Man fühlt des Dichters Ringen mit sich und dem richtigen Wort und spürt zugleich die Entwurzelung aus dem wirklichen Leben. Die bei Laufenberg zu erwartende, überflüssige Entblößungsszene hat diesmal wenigstens einen inhaltlichen Anstrich. Der zwischen der älteren, aber vertrauten Irina und der jungfräulichen Nina schwankende Mann lässt sich vor allem von seiner Begierde leiten. Die schnelle sexuelle Befriedigung durch die erfahrene, vor Eifersucht rasende Irina beschwichtigt im Nu sein Sehnen und zeugt von seiner menschlichen Oberflächlichkeit. Das Abenteuer mit Nina holt er sich später – und bricht ihr dabei das Herz.

Ulla Schlegelberger geht diesen Weg von dem unerfahrenen, träumerisch-naiven Mädchen zur ausgebrannten, sich innerlich verzehrenden Frau durchaus recht souverän. Auch Markus Reymann als der von ihr verschmähte Kostja durchschreitet einen langen Entwicklungsbogen, vom sich lautstark echauffierenden Rebell zum resignierenden Ja-Sager, wobei die tiefe Aufgewühltheit mitunter nicht ganz durchdrungen scheint. Immer häufiger flieht Kostja in die Klaviermusik. Am Ende bleiben nur noch schräge, schrille Musikfetzen, wie der grelle Schrei von Möwen. Dann fällt der Schuss. So wie er mit der Kugel einst den weißen Vogel vom Himmel holte, beendet Kostja nun auch seinen eigenen Sturzflug.

Das Spiel geht dennoch weiter. Die angeschlagenen Töne hämmern fort – hinter den eigenen Schläfen.

Die nächsten Vorstellungen im neuen Theaterhaus sind heute um 19. 30 Uhr und morgen um 15 Uhr.

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