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Kultur: Bruchlandung

Trauriges Kindertheater übers Fliegen

Stand:

Trauriges Kindertheater übers Fliegen Die kleine Frau sieht traurig aus, als sie durch den Zuschauerraum auf die Bühne klettert. Viel zu große, graue Jacke, graue Hose, zotteliges Haar. Die groß aufgerissenen, scheuen Augen blicken den Papierfliegern nach, die sie aus ihren Taschen zieht und einen nach dem anderen nach oben steigen lässt. Kurz schweben sie in der Luft. Fliegen. Das wünscht sich auch die graue Frau. Das ist ihr Traum. Sie weiß nur noch nicht wie. „Wir sind schon mal geflogen“, sagen die kleinen Zuschauer im Sternenzelt an der Schiffbauergasse. „Nach Mallorca in den Urlaub“, ruft ein Junge. Aber wie das ohne Flugzeug klappen soll, wissen sie auch nicht. Der Ansager von „Vol de nuit“, Nachtflug, dem Kindertanzstück der französischen Tänzerin Noelle Dalsace, muss am Montagmorgen bei den 1. Potsdamer Kindertanztagen ohne Antwort den Raum verlassen. Aber das macht nichts, die kleine graue Frau hat viele Ideen. Lange experimentiert sie herum, um ihre Sehnsucht nach dem Fliegen Wirklichkeit werden zu lassen. Mit flatternden Armen, einem Sprung von der Leiter und einem Luftballon in der Hand, versucht sie abzuheben. Schön anzusehen, ihre geschmeidigen, sanft ineinander übergleitenden Bewegungen, unaufdringlich untermalt von clownesken Zügen, einem herausgestreckten Po, aufgeblasenen Wangen oder poltrigem Murmeln. Die kleine Frau scheint geführt von Trompetenklängen, Schifferklavier, brummendem Kontrabass aus den Boxen oder der Stille, die sich von dem draußen lärmenden Baustellenkrach abhebt. Sie nimmt die kleinen Zuschauer mit in ihren Traum. Die Kinder beobachten, bewundern, klatschen Beifall. Nur zu lachen haben sie nicht viel an diesem Morgen. Schummriges Licht und graue Farben. Eine am Boden hockende, ängstlich auf der Leiter zusammengekauerte Tänzerin, die den Absprung fürchtet. Eine am Boden klebende Sehnsucht, die nicht wagen will. „Vol de nuit“ stellt einen scheinbar unerreichbaren Traum dar, weit entfernt von leichter Sehnsucht, von schwerelosem Sein. Zwischen Himmel und Erde. Der Erde näher als dem Himmel. Nur selten schwirrt die Tänzerin losgelöst durch den Raum, frei, unbeschwert, glücklich. Sie hat jetzt den grauen Stoff abgeworfen, trägt ein leichtes weißes Gewand mit einer großen Feder auf der Brust. Endlich: das Gesicht ein großes, leuchtendes Strahlen. Es wird für einen Moment ganz warm im Raum. Viel öfter wünscht man sich diesen fröhlichen, hoffnungsvollen Geist. Zum Schluss hin wird die Fliegerfrau mutiger. Sie traut sich, von der Leiter zu springen. Und macht eine derbe Bruchlandung auf dem Boden. Doch sie gibt nicht auf. Findet die Lösung, ein großes weißes Tuch. Ihre Flügel. Sie strahlt, dreht sich schnell, schneller, schwebt über dem Boden. Glücklich. Dann plötzlich die Wende. Happy End adé. Sie strauchelt, stürzt wie die Papierflieger. Eingedreht, gefangen, verpackt in dem großen weißen Tuch liegt die Fliegerfrau nun auf der Bühne. Aus. Vorbei. Ein trauriges Schlussbild. Ein trauriges Ende auch für den Versuch, einen Traum zu leben. Die glücklichen Momente vor dem Sturz können das hoffnungslose Bild der verschnürten Fliegerin nicht aufwiegen. Es bleibt ein fahler Nachgeschmack im Sinne: Hochmut kommt vor dem Fall. Die Kinder sehen es gelassen. Sie applaudieren artig. In dem Gespräch nach der Aufführung haben sie nichts zu sagen. Marion Hartig

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