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Kultur: Brücke ins Niemandsland

Wolfgang Templin war zu Gast in der Bibliothek

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Nachrichten jenseits von Brest nimmt der normale Zeitgenosse nicht unbedingt aufmerksam wahr. Polen ja, Baltikum ja, irgendwie hat das jetzt auch mit der EU zu tun, aber Weißrussland, die Ukraine, das interessiert wohl eher wenige? Den ehemaligen DDR-Bürgerrechtler und freien Publizisten Wolfgang Templin, Mitbegründer der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ schon. Wie für ihn die Ereignisse des 9. November 1989 „nie ein nationales Datum“, sondern eine ganz Osteuropa erfassende „Kette friedlicher Befreiungsbewegungen“ waren, so sieht er „die Demokratie“ östlich des Bug heute noch lange nicht etabliert. Als studierter, wie stets unzufriedener Philosoph mischte er bereits im Polen der späten siebziger Jahre ein wenig mit, verfolgte nach 1990 mit direktem Engagement die politischen Bewegungen in Baltikum und Weißrussland. Seit einiger Zeit richtet er seinen Blick exklusiv auf die Ukraine, bereist sie landauf, landab, spricht mit Politikern, Oppositionellen, mit unabhängigen Gruppen. Ergebnisse und Erfahrungen dieses direkten Engagements hat er in seinem Buch „Farbenspiele – Die Ukraine nach der Revolution in Orange“ (Verlag fibre, Osnabrück 2007) niedergeschrieben. Am Donnerstag stellte er es, von der Friedrich- Naumann-Stiftung beschirmt, in der Stadt- und Landesbibliothek vor.

Bei der nur ein Dutzend zählenden Zuhörerschaft muss es sich wohl durchweg um Spezialisten gehandelt haben, denen „Majdan“, „Orangene Revolution“, Namen wie Juschtschenko und Timoschenko so geläufig sind wie unsereinem Kohl und Stoiber. Ihnen bereitete der etwas fahrige und wenig durchsichtige Einstieg des Referenten in eine genauso unklare Situation vor Ort offenbar keine Probleme. Für den Ungeschulten hingegen stellt sich dieses Land fortan als ein filziger Dschungel aus politischen Machtinteressen, Korruption, oligarchischen Wirtschafts-Clans („Paten“) und Kriminalität dar, die sich auch politisch artikuliert. Der demokratische Parteienstreit zwischen „Orange“ und „Blau“, an den der bekennende Bürgerrechtler Templin so fest glaubt, folgt westeuropäischen Regeln offenbar wenig. Vielmehr erinnern politische Rhetorik und die pekuniären Hintergründe eher an Südamerika: dreihundert beim Finanzamt registrierte Millionäre sitzen im Kiewer Parlament. Um Demokratie geht dieser Streit wohl nicht, auch wenn die Reformbewegung im Herbst 2004 fast wie in der DDR entstand, als Protest gegen Wahlfälschungen. Mit Hauen und Stechen wird eher darum gestritten, ob man dem Westen (Präsident Viktor Juschtschenko nebst orangener Bewegung) oder lieber Putins Reich (Viktor Janukowitsch, Blau) folgen solle. Innerhalb der Regierungsgruppe konkurriert die „unabhängige“ Julia Timoschenko mit dem Chef der Präsidialherrschaft. Aus dem russisch-dominierten Osten der Ukraine stammend, hat sie eine tolle Vita: vom Videoverleih über die flächendeckende Beherrschung der Energie bis an die Spitze der Politik, wozu sie nicht nur Ukrainisch lernte, sondern auch die Haarfarbe wechselte. Jetzt empfiehlt sie sich mit blondem Flechtzopf.

Die Biographien der übrigen Protagonisten haben ähnlich abenteuerliche Farben. Es sind die Protagonisten eines noch offenen Streits über den weiteren Weg. Templin bedeuten „drei Präsidenten in Folge“ fast schon eine Garantie für den „westlich-demokratischen“ Weg der Ukraine. Sollten jetzt aber die „Blauen" siegten, werde sie, mit Blick auf den nördlichen Nachbarn, eher zu einer „Brücke ins Niemandsland“.

Wolfgang Templin, „Farbenspiele – Die Ukraine nach der Revolution in Orange“, fibre Verlag Osnabrück.

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