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Kultur: Bruder Alkohol

Das „Buch vom Trinken“ in Buchhandlung Sputnik

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Wir wissen es, wir erleben es: Alkohol ist unsere Gesellschaftsdroge, an der jährlich viele Tausende von Leben scheitern oder gar in ihr ertrinken. Wir wissen aber auch (fast) alle um die Verzauberung durch süße und bittere Getränke, die langsame Verklärung des realistischen Blicks, die Wogen des Glücks, die Verzauberung von Umwelt und Mitmenschen durch diesen zweifelhaften Bruder. Alles ist im Glas: das Entzücken und sein vollständiges Verschwinden. Eigentlich haben wir es in der Hand. Nun gibt es einen Band, prosaisch, aber einen Vollständigkeitsanspruch verkündend: „Das Buch vom Trinken“ genannt. Es wurde in der Buchhandlung „Sputnik“ vorgestellt.

Gemütlichkeit knisterte aus dem Glasmetallkamin, der Herausgeber der Anthologie, Jörg Sundermeier, saß ganz ohne Getränk in dem engen Sessel neben der 50er-Jahre-Lampe, die ihr diffuses Licht über sein bärtiges Gesicht strahlte. Nur wenig Zuhörer waren gekommen, aber alle bewaffneten sich sogleich mit einem Bier oder Wein, um die Enthüllungen alkoholisch-literarisierten Lebens geschützt, distanziert und in heimlichem Einverständnis auf sich wirken zu lassen. Zu spät, wie es sich für die Szene gehört, begann die verheißungsvolle Lesung der neuen Ausgabe aus dem „Verbrecher Verlag“ mit einer Erzählung, an deren Ende man nicht mehr darüber hinwegsehen konnte, dass der Kamin trotz aller Adventanstrengung doch nicht genügend Wärme abgab. Nach den Bekenntnissen von Jürgen Kiontke, der in der Kurzerzählung „Saufarbeit“ die Erfahrungen eines Kindes von Alkoholikern beleuchtet, fröstelte einen. Letztlich wurde der Held selbst zum Trinker, schildert die vom versoffenen Vater blau geschlagenen Augen der Mutter, die aber auch selbst ständig Bläue zeigt, nicht nur im übertragenen Alkoholsinne, sondern durch die vielfältigen Stürze in Folge ihres Suffs. Dass der erwachsene Sohn sich letztendlich von der Sucht befreien konnte, ist zwar erfreulich, aber richtig tröstlich war nichts an der Geschichte, auch wenn der Autor versucht, sich eines distanzierten und (selbst-)ironischen Tones zu befleißigen.

Doch gibt es auch fröhliche Trinkergeschichten in der Anthologie, die siebenundzwanzig Autoren versammelt. Nach einem Aperçu eines im Grünstreifen der Karl-Marx-Allee schon früh am Tag hängen gebliebenen Weinseligen von Kirsten Küppers zählte Sundermeier durch den Text von Christian Y. Schmidt das Schicksal vieler bekannter Schriftsteller auf, denen der Alkohol das Leben gehörig versüßte, aber auch extrem verkürzte. Alkohol und Dichtung sind eine Kombination, die spätestens seit Bukowski szene-salonfähig geworden ist, und wie gerne strömen die Massen zu Lesungen von Harry Rowohlt, nicht nur, um die mit sonorer Stimme vorgetragenen intellektuellen Seilsprünge zu genießen, sondern um voyeuristisch der kultiviertesten Art des Saufens beizuwohnen. Doch die Aufzählung von Schmidt hält die Spannung nicht, zu viele Namen, zu viele ähnliche Formulierungen. Interessanter war da schon der Text über den „hochprozentigen Widerstand“ von Friedhelm Ratjen mit der Anekdote des Betrunkenheit vorgebenden irischen Autors Flann O“Brian, der ausnahmsweise komplett nüchtern mit der Obrigkeit scherzt. Lore Bardens

Lore Bardens

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