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Kultur: Da ist nur eine geografische Nähe

Eine Diskussion über osteuropäische Literatur

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Osteuropa existiert nicht. Nicht mehr. Zumindest der Begriff „Osteuropa“ ist seit dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs fragwürdig geworden. Was ist eigentlich Osteuropa, was Westeuropa, nachdem diese Zweiteilung Europas aufgehoben wurde? Denn noch heute ist immer wieder von Osteuropa auch in der Kultur die Rede, wird von osteuropäischer Musik, von osteuropäischen Filmen und osteuropäischer Literatur gesprochen. Aber gibt es überhaupt eine solche osteuropäische Literatur?

Zu dieser Frage veranstaltete das Einstein-Forum in dieser Woche eine Lesung und Diskussion. Geladen waren Christa Ebert und die Autoren Natasza Goerke und Oleg Jurjew. Christa Ebert, Professorin für Literaturwissenschaft und Osteuropa an der Europa-Universität Viadrina, leitete den Abend mit den Erkenntnissen ihrer Osteuropaforschung ein. Ein deutscher Verlag war an sie herangetreten und hatte angefragt, ob sie eine Anthologie über „Die Literatur in Osteuropa“ verfassen könnte. Erst bei der Recherche stellte sie fest, dass der Sammelbegriff „osteuropäische Literatur“ unanwendbar ist. Denn wie sich herausstellte, gibt es schlichtweg keine osteuropäische Literatur. Die kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen osteuropäischen Ländern seien derart markant, dass es keine gemeinsame Kategorie geben könne, sagte Ebert.

Daher entschied sich die Wissenschaftlerin lediglich zwei osteuropäische Länder zu vergleichen und anhand von Polen und Russland osteuropäische Literaturformen exemplarisch aufzuzeigen. Polnische Literatur zeichne sich durch ein eindringliches Pathos aus und erzähle meist von Niederlagen und tragischen Leidensgeschichten. Westeuropäer könnten mit diesem Pathos nicht viel anfangen, so Ebert. Daher seien polnische Geschichten nicht so erfolgreich. Im Gegensatz dazu erzählen russische Schriftsteller Heldengeschichten, die vor Stolz, Kraft und meist auch Sozialkritik nur so strotzen. Was aber beide Kulturkreise auszeichne, sei eine tiefe Feindlichkeit. Christa Ebert erklärte, dass Russland seinen Nationalstolz teilweise auch aus dem Feindbild Polens ziehe und sich dies in der Literatur widerspiegle.

Eine subtile, aber nicht ernstzunehmende „Feindlichkeit“ war auch bei der Lesung von Natasza Goerke und Oleg Jurjew zu erkennen. Zunächst las Jurjew, Autor deutscher und russischer Bücher, Ausschnitte aus seinem Buch „Von Orten. Ein Poem“ in seinem starken russischen Akzent. Kennzeichnend für seine Schreibweise ist eine gewisse Härte, vor allem in der Wortwahl. Im Anschluss präsentierte die polnische Autorin Natasza Goerke einige ihrer Texte. Auch in ihren Texten berichten die Protagonisten von einem ausgeprägten Misstrauen gegenüber Russen.

In der anschließenden, phasenweise erhitzten Diskussion wurde dann noch einmal die Frage aufgegriffen, warum überhaupt nach einer osteuropäischen Literatur gefragt werde. Ob nicht allein dadurch eine Abgrenzung oder sogar Abwertung des europäischen Ostens vollzogen werde. Die Kategorisierung des „Östlichen“ lasse sich nicht mit dem Selbstbild einiger so betitelten Osteuropäer vereinbaren. Polen sehen sich beispielsweise eher als Mitteleuropäer. Für manchen Westeuropäer sei der Pole aber eher osteuropäisch. Sicherlich helfen derartige Oberbegriffe, um Kategorien in der Literatur zu definieren. Jedoch sollte der Begriff nicht unkritisch betrachtet werden, so das Fazit des Abends. Der Begriff „Osten“ sei oft negativ behaftet und die sogenannten Osteuropäer fühlen sich dadurch herabgestuft. Jurjew fasste am Ende der Diskussion zusammen: „Um eine osteuropäische Literatur zu haben, müssten wir ein Osteuropa haben. Aber das ist utopisch.“ Allein die geografische Nähe haben die osteuropäischen Länder gemein, aber die Literaturen können nicht zu einem Einheitsbrei gemischt werden. Lieber solle man die Unterschiede und so jede Literatur für sich wertschätzen. Josefine Schummeck

Josefine Schummeck

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