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Kultur: Damals ist weit weg

Lesung von Renate Wullstein über die legendäre Zeit im Café Heider

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Lesung von Renate Wullstein über die legendäre Zeit im Café Heider Wie erschließt sich das Leben in einer Stadt wie Potsdam? Der Neuankömmling wird die preußische Geschichte studieren und die historischen Fassaden abwandern. Doch die Jahrhunderte als Residenz-, Verwaltungs- und Garnisonsstadt erschweren, Orte des „bürgerlichen“ Alltags zu bestimmen. Erinnerungsorte, die als Ausgangspunkt einer persönlichen Stadttopographie dienen. Das Café Heider am Nauener Tor ist so ein Ort. Jeder hat das Heider auf seinem inneren Orientierungsplan, auch wenn er selten oder nie eintritt und Jahre lang nicht mehr dort war. Das Heider, als eines der ersten Cafés nach der Wende in der Innenstadt, spielt immer noch die Rolle eines Paradigmas. Das liegt weniger an der schwer erträglichen Bohéme-Attitude, die Gast und Personal allabendlich nicht ohne unfreiwillige Provinzkomik zur Schau stellen, sondern am legendären Ruf aus jener Vorwendezeit als Treffpunkt einer Szene von Unangepassten, Hinterzimmer-Anarchisten und Lebenskünstlern. Und nun, zwanzig Jahre später, sitzt Autorin Renate Wullstein im ersten Stock des „neuen“ Heider auf einem karmesinroten Plüschsofa, bereit zur Lesung. Das gastgebende Haus erweist sich als großzügig: „Schmalzstullen gehen heute auf´s Haus“, verspricht die Geschäftsleitung. „Willkommen in der Stasi-Zentrale“, begrüßt Wullstein die dreißig bis vierzig Zuhörer, die meist Gäste auch damals waren. Es ist der Arbeit von Martin Ahrends zu verdanken, dass auch das verstörendste Detail aus der damals wilden und bunten Zeit bekannt wurde. Erst vor zwei Jahren, als der alte Café-Besitzer Karl Heider (auch Karlotta oder Torten-Lilly genannt) von ihm befragt wurde, kam heraus, dass die gesamte Decke des unteren Gastraumes mit Richtmikrophonen ausgestattet war. Hier oben müssen die Abhöranlagen gestanden haben. Ahrends selbst war nie Teil jener geschätzten 150 bis 200 Stammgäste, ein Umstand, der seiner Protokollsammlung sehr gut tut. Insgesamt hat er 29 Gespräche geführt, mit ehemaligen Angestellten, Musikern und Mitgliedern der verschiedenen Kreise. Wullstein liest an diesem Abend nicht ihre für die Sammlung „Damals im Café Heider“ vorgesehene Protokollmitschrift, sondern einen Beitrag zu einem Buch, das Sex in der DDR zum Thema hatte. Damals hätte sie gedacht: „Nee, im Heider war kein Sex, da wurde nur gequatscht und gesoffen.“ Nach wenigen Minuten bricht sie jedoch ab. „Hier wird es zu intim, ich kann das nicht vorlesen“, die Freunde bedauern das zwar ein wenig, haben aber Verständnis. Wullstein, in deren Verlag Schwarzdruck Anfang 2005 die Texte erscheinen sollen, erzählt lieber von den Finanzierungsschwierigkeiten. Jauch hätte einen Beitrag versprochen, das Geld wäre schon da. Unterstützung wäre willkommen. Auch dieser Teil des Abends ist schnell erschöpft. Hier sitzen sie nun, Freunde und Bekannte von damals, haben vor zwanzig oder dreißig Jahren wirklich jeden Abend beieinander gesessen und immer viel getrunken. Davon ist nun nichts mehr zu spüren. Schweigen, fast Ratlosigkeit, weil der Abend eigentlich vorbei ist, ohne richtig begonnen zu haben. Kellner präsentieren Schmalzstullen und bringen Getränke. Das Damals ist noch verdammt weit weg. Wullstein liest dann doch noch aus Ahrends Manuskript, den Bericht der Kellnerin Barbara. Langsam beginnt man sich zu erinnern: „Wie hieß der Kellner nun wieder?“, „Kann sich jemand an den Perser erinnern, mit dem wir am Bassinplatz Wasserpfeife geraucht haben?“, „Wie hieß der Rotweinsänger?“. Dann greift sich ein anwesender Schauspieler den Text von Egon, einem Keramikkünstler. Seine Diplomarbeit steht auf der Freundschaftsinsel. Er ist im Publikum. Der Schauspieler liest, und eine Stimme wird lebendig. Sie erzählt von den Qualen eines Schwulen in der DDR, den Drangsalen der Stasi, den Exzessen. Der Focus weitet sich, das Heider mitsamt seinen gefangenen Träumen und Räuschen tritt in den Hintergrund. Hervor kommt ein mutiger, wilder, trauriger Lebensbericht, der sehr direkt vom Leben in der DDR erzählt. Heute erst treffen sich die Freunde von damals wieder regelmäßig, sagt Renate Wullstein. Nach der Wende hätte man Zeit gebraucht, die Träume und Ideen von damals tatsächlich umzusetzen. Fast alle hätten es geschafft. Es sind die Gesichter Potsdams. Einen Ort wie das alte Heider gäbe es in Potsdam nicht mehr, heute träfe man sich im Guam in der Mittelstraße, gleich um die Ecke.

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