Kultur: Das Europa der Wartenden
Fotografien von Frank Gaudlitz ab heute im Kunstraum in der Schiffbauergasse
Stand:
Europa, besser das fremde Europa, schaut im Kunstraum auf uns herab. Über 50 Augenpaare blicken von den fast lebensgroßen Fotografien, die der Potsdamer Fotograf Frank Gaudlitz auf gut 35000 gefahrenen Kilometern entlang der Donau für sein Projekt „Warten auf Europa – Begegnungen an der Donau“ aufgenommen hat. Stehende, die sich in Wartestellung befinden, als ob sie gleich die Stufen eines Busses herunter steigen. Sie stehen so dicht am Bildrand, fast scheinen sie den Rahmen im nächsten Schritt zu verlassen.
Zwei Jahre ist Gaudlitz mit seiner Mittelformatkamera dem Verlauf von Europas zweitlängsten Fluss mit seinen 2778 Kilometern gefolgt, von der Mündung in der Ukraine über Moldawien, Rumänien und Ungarn bis nach Deutschland. Durch zehn Länder ist er gekommen, von denen vier zur Zeit seiner Reisen erst Mitglied in der Europäischen Union waren. Er kenne jetzt wirklich jeden Ort am Fluss, sagt Gaudlitz nach dieser Zeit. Zu den Menschen, die er dort angetroffen und festgehalten hat, empfindet er auch jetzt noch, zwei Jahre nach Abschluss des Projekts, eine besondere Beziehung. Reisebekanntschaften, denen er per Post immer auch einen Abzug seines Bildes zukommen ließ.
Von den Farbaufnahmen geht eine bewusste und geplante Wirkung aus. Alle Ganzkörperporträts sind nach seriellem Prinzip entstanden, beinahe gleichförmig, kein Kopf ist modern im Anschnitt zu sehen. Alles, um Vergleichbarkeit, so Gaudlitz, zu erreichen. Der Horizont ist, wenn er sichtbar ist, immer nahezu auf der gleichen Höhe. Linien wie Wege, Straßen oder Schienenstränge verlaufen beinahe zentralperspektivisch. Das große Format der Ausdrucke wählte Gaudlitz gerade so, dass man dennoch den ganzen Menschen mit einem Blick erfassen kann. Und um die Würde der Menschen in seiner Einfachheit, ja manchmal regelrechten Armut zu schützen, entschied sich Gaudlitz bewusst dazu, die Bilder so hoch zu hängen, dass man zu den Porträtierten fast unmerklich aufschauen muss.
Gaudlitz fuhr mit dem Auto durch die zahlreichen kleinen Orte und Provinzstädte und suchte seine Motive sozusagen im Vorbeifahren. Ein Pärchen auf einer Autobahnbrücke, er in eine Art Uniform gekleidet. Die Umgebung ist kahl und unwirtlich, Wind weht durch ihre Haare.
Vorder- und Hintergrund zur Komposition hatte Gaudlitz oft schon vorher festgelegt. Zusammen mit der fotografierten Person bilden sie „ein strukturell Verbindendes“, wie Gaudlitz bezweckte. Die geraden, eisernen Schienen, auf denen der gutaussehende Schaffner steht, der wie ein Modell posiert, zeigen Gradlinigkeit, die auch das kantige Gesicht ausdrückt. Die Signalkelle ist gezückt wie ein Pistole.
Dem diesjährigen Gewinner des Lotto Kunstpreises des Landes ging es jedoch um mehr als um die Darstellung der menschlichen Vielfalt. Gaudlitz ist kein objektiver Völkerkundler, der Unterschiedlichkeit fremder Gesichter festhalten will. Der 1958 geborene Potsdamer fixiert in seinen Fotografien die beunruhigende Unsicherheit jener, die mit dem Beitritt ihrer Nationen zur EU kurz vor einer weiteren Systemveränderung stehen. Die Gesichtsausdrücke sind zurückhaltend, verschlossen, ängstlich, sie sprechen viel, doch lachen und sich freuen, das tun sie nicht. Dahinter verbirgt sich ein sehr kritischer Euro-Skeptizismus. Gaudlitz sammelte nicht nur Menschen auf seinem Weg auf, auch Wünsche und Hoffnungen. Diese faksimilierten Aussagen, die auch im schönen Katalog nachzulesen sind, unterstützen diesen nachdenklichen Eindruck noch.
All die zum Teil skurril gekleideten Personen, die Gaudlitz zum Foto bat, scheinen Einlass zu begehren, so nahe stehen sie vor uns. Sie warten auf ein Europa, das ihnen die Tür öffnet. Dass man, um die alte Idee eines grenzenlosen Kulturlandes Wirklichkeit werden zu lassen, auch einen Schritt nach vorn machen muss, davon sagen Frank Gaudlitz menschen- aber nicht unbedingt europafreundliche Bilder nichts.
Vernissage: heute, 20 Uhr, Mi. - Fr. 12 - 18, Sa. + So. 10 - 18 Uhr
Matthias Hassenpflug
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