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Ein Liederabend am HOT zwischen Ost und West: Das ewige Unbehagen trällern

Wenn an diesem Abend in der Reithalle des Hans Otto Theaters der Synthesizer anhebt, irgendwie schmalbrüstig und halbseiden, und so typisch für den Sound der 1970er-Jahre, wähnt sich der Zuhörer unversehens in die Popkulisse der DDR zurückversetzt. Erst recht, wenn das darauffolgende Piano das Intro ins Balladeske überführt und so zwei Grundpfeiler ehemals ostdeutscher Rockmusik zu dem zusammenschmiedet, was sie oftmals waren – Synthie-Balladen.

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Wenn an diesem Abend in der Reithalle des Hans Otto Theaters der Synthesizer anhebt, irgendwie schmalbrüstig und halbseiden, und so typisch für den Sound der 1970er-Jahre, wähnt sich der Zuhörer unversehens in die Popkulisse der DDR zurückversetzt. Erst recht, wenn das darauffolgende Piano das Intro ins Balladeske überführt und so zwei Grundpfeiler ehemals ostdeutscher Rockmusik zu dem zusammenschmiedet, was sie oftmals waren – Synthie-Balladen.

Doch keine Sorge, der von Andrea Thelemann und dem Pianisten und Kompositeur Reinmar Henschke ins Leben gerufene Liederabend am Hans Otto Theater verkommt nicht zur posttraumatischen DDR-Melancholie-Bewältigungsshow. Was, in blaues Bühnenlicht getaucht, mit einer wenig später einsetzenden Singstimme beginnt, gestaltet sich in der Folge als erfrischender, wohlarrangierter Ausstoß von Zitaten zweier Protagonisten, die in der DDR aufgewachsen sind und das seltsam anmutende Glück genießen durften, in zwei unterschiedlichen Systemen zu Hause gewesen zu sein. Und immer noch sind.

Kein Wunder also, dass der Liederabend unter dem Titel „Juckreiz in der Seele“ firmiert. Irgendetwas stachelt immer, ist fahl, falsch oder verlogen, und das Glück bleibt fern. Im gesamtdeutschen Nachwendekontext sah man in der DDR entweder ein bestialisches, diktatorisches Gebilde voll mit Monstern. Oder die Romantizismen ehemaliger DDR-Bürger ließen ein autonomes Land erblühen, in dem keiner wirklich verkommen war.

Die konkrete Erinnerung wirkt dann manchmal beinahe rührend wie real-unreal. So wie jene an das Jahr 1977, von der Andrea Thelemann hinterm Mikrofon erzählt, als sie während der obligatorischen vormilitärischen Ausbildung, in Uniform gesteckt, aus einer Baracke herzzerreißende Klaviertöne vernahm, die, wie sich herausstellte, von einem „wahnsinnig gut aussehenden jungen Mann“ stammten, der verträumt hinterm Instrument saß und übte. Damals schlossen sie Bekanntschaft, verloren sich zwischenzeitlich über Jahre hinaus aus den Augen und kamen nun wieder für diesen Song-Abend zusammen. Die Zitate reichen von Volksliedern und Franz Schubert über DDR-Exemplarisches wie Lift und Holger Biege bis hin in die Nachwendehistorie mit Reinald Grebe und Funny von Dannen. Andrea Thelemann, Schauspielerin am Hans Otto Theater, die ursprünglich in Leipzig zur Sängerin ausgebildet wurde, gibt sich heiter anzuschauen mal als Uschi-Brüning-Versatz, mal als Rockröhre, die mit einem „Wotan“-Songschnipsel Nina Hagen imitiert. Dahinter gärt die stille Wut gegen alles Scheitern, das mit Rammstein zum Ausdruck kommt - „Ich will“. Doch dieses Wollen, der Drang zum Leben und sich Behaupten, geht nur unter der Maßgabe von Wolf Biermanns „Ermutigung“. Das ist der lange Bogen zwischen zwei Ländern, der DDR und Deutschland, von denen es ersteres nicht mehr gibt. Andrea Thelemann und Reinmar Henschke widmen sich dem Spagat in nicht tragischer Weise. Trällernd und spielend diagnostizieren sie ihr Unbehagen, das immer Hochkonjunktur hatte, damals wie heute. Ralph Findeisen

Zum letzten Mal in dieser Spielzeit ist „Juckreiz in der Seele“ am Samstag, dem 20. Juni um 19.30 Uhr in der Reithalle, Schiffbauergasse, zu hören

Ralph Findeisen

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