Kultur: Das Kind Gulliver
Jugendtheatergruppe „Mad Mix“ mit „Spiel mir das Lied von Gulliver“ in der fabrik
Stand:
Lemuel Gulliver ist hin- und hergerissen. Soll er zu Haus in England einem ordentlichen, wenn auch langweiligen Beruf nachgehen, bei der Verlobten bleiben, die ein Kind erwartet, und dem kränkelnden Vater zur Seite stehen, oder soll er seiner Sehnsucht folgen und hinausfahren aufs Meer zu unbekannten Ufern? Stimmen aus dem Hintergrund reden auf ihn ein, auch die eigene.
Mit seinem Gewissenskonflikt steht er allein am Beginn des Theaterstückes „Spiel mir das Lied von Gulliver“, das die Potsdamer Theatergruppe „Mad Mix“ am Wochenende in der fabrik aufführte. In der Truppe des Offenen Kunstvereins agieren Schauspieler zwischen 13 und 23 Jahren. Durchaus hätte ein junger Mann die Rolle des Abenteurers übernehmen können. Auf der Bühne aber steht Philipp Kozik, ein schmaler Junge mit staunend aufgerissenen Augen und fragendem Blick. Symbol für das Kind im Mann? Für Neugier, Wissensdurst und die Suche nach dem Sinn des Dasein?
Mit kindlicher Naivität begibt er sich dann auch auf große Fahrt, nicht ganz ernst genommen vom ruppigen Kapitän und der hartgesottenen Crew. Ein Sturm fegt ihn ans Ufer von Liliput, dem Königreich der kleinen Leute. Das liebenswürdige, lustige Völkchen nimmt den „Menschenberg“ gastfreundlich auf, wittert dann aber Gefahr und ekelt Gulliver schließlich mit einer Intrige hinaus.
Hier scheint sie zum ersten Mal durch, die scharfzüngige Kritik des schriftstellernden Priesters und Politikers Jonathan Swift, der mit „Gullivers Reisen“ die Regierungsformen im 18. Jahrhundert anprangerte. Nicht die verharmlosende Jugendbuchvariante hat sich die Theatergruppe als literarische Inspiration vorgenommen, sondern den weniger bekannten Urtext. Denn der führt nicht nur zu den kleinlichen Zwergen und den gierigen Riesen, sondern auch nach Laputa, auf die fliegende Insel der introvertierten Kopfmenschen, und ins Land der klugen Pferde, vernunftbegabte Wesen, die sich die zotteligen menschenähnlichen Yahoos als Dienstboten halten.
Die Regisseurinnen Ulrike Schlue und Nikki Bernstein ließen die jungen Schauspieler über freies Improvisieren die einzelnen Szenen entwickeln. So spielen sie selbstbewusst und sicher, was sie sich ausgedacht haben. Und hinter jeder noch so surrealen Begebenheit schimmern eigene Lebensbezüge durch: Erfahrungen mit Falschheit wie bei den Zwergen, mit Geschäftemacherei wie bei den Riesen, aber auch mit Beziehungslosigkeit und der Unfähigkeit Gefühle zu zeigen, wie sie Gulliver bei den intelligenten Kopfmenschen und den vernünftigen Pferden begegnen.
Die besondere Stärke der Inszenierung liegt in der engen Verbindung von darstellenden und bildenden Künsten: Schillernde Kostüme der Meereswesen (Pia Ulbricht) und das Bühnenschiff mit Segel, Strickleiter und Steuerrad (Sylvia Heilgendorff) führen hinaus auf die See. Für die Riesen hat Puppenspielerin Nora Raetsch schrullige Masken entworfen, für die Pferde silbern glänzende Köpfe mit spiralförmig herausstechenden Augen und für die Zwerge eine Herde von Miniaturschafen. Die Liliputaner selbst kommen auf Knien angerutscht, die sie unter runden Reifröcken verbergen. Ein skurriler Anblick.
Nach all den seltsamen und verstörenden Begegnungen steht das Kind Gulliver am Ende so ratlos wie am Anfang da. Enttäuscht fragt es: „Wo soll ich jetzt hingehen?“ Es bleibt weiter auf der Suche. In einem Luftschiff bricht es auf zu neuen Ufern. Antje Horn-Conrad
Antje Horn-Conrad
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: