Kultur: Das Lied der Lieder
Eröffnung der „Vocalise“ im Nikolaisaal
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Mit der Frage der Fragen und dem Lied der Lieder wurde am Sonntag die Potsdamer Vocalise im Nikolaisaal eröffnet. Ud Joffe, spiritus rector der Gesangswochen, offerierte erneut musikalische Schätze abseits der üblichen Konzertprogramme. Tief in der jüdischen Tradition verwurzelt ist die Frage: „Maykomashmalon – Was bedeutet das?“. Wer so fragt, will verstehen, Tiefen ergründen, einen Sinn erkennen. Unzählige Dialoge im Talmud beginnen mit dieser Frage. Sie steht auch am Anfang der modernen Geisteswissenschaften. „Maykamashmalon“ heißt ein Lied des jiddischen Dichters Avrom Reisen. Glückliche Umstände führten dazu, dass seine poetischen Verse von Bernard San, dem langjährigen Kantor der Züricher Synagoge gesungen wurden. In der zeitgenössischen Vertonung von Vladimír Godár mit dem intimen Dreiklang von Stimme, Viola und Cello ergab dies einen eindrucksvollen Auftakt der diesjährigen Vocalise im Zeichen des interkulturellen Dialogs. Die Suche nach dem Sinn ging unmittelbar in „Kaddish für Viola und Streichorchester“ von Mark Kopytman über. Der in Israel lebende Komponist gibt darin dem jüdischen Gebet eine dreisätzige, gleichwohl rhapsodische Gestalt. Expressive melodische Linien, gelegentlich zunehmende Tempi, sogar mal ein tänzerischer Rhythmus, schroffe Akkorde bilden den dramatischen Hintergrund, vor dem sich die Violastimme von Itamar Ringel leuchtend golden erhebt und fahl verlischt.
Als deutsche Erstaufführung wurde „Schwarz bin ich “, eine musikalische Fantasie von Ella Milch-Sheriff nach dem Lied der Lieder aufgeführt. Das etwa im fünften Jahrhundert v. Chr. niedergeschriebene Hohelied der Liebe besteht aus einer Sammlung von Gedichten zumeist in der Ich-Form aus weiblicher und männlicher Perspektive. Ella Milch-Sheriff erzählt eine klar gegliederte Geschichte von Entstehen und Erkennen, Liebe und Verlassensein.
Das speziell auf die israelische Sopranistin Keren Hadar zugeschnittenene Werk konzentriert sich auf die weibliche Perspektive. Ein Sängerterzett aus Countertenor, Tenor und Bass übernimmt die Parts des Chores und, selten nur, des Geliebten. Einer der Paten war, wie zu hören ist, der italienische Opernerneuerer und Madrigalist Claudio Monteverdi. Viele Elemente erinnern an seine Werke, speziell an das „Lamento della ninfa“. Ein Streichquartett, drei Bläser, zwei Percussionisten und Klavier offerieren vielfältige Möglichkeiten der Instrumentierung. Orientalische und westliche Rhythmen, traditionelle und moderne Klänge verbreiten multikulturelles Flair. Dennoch dominiert der Eindruck von Geschlossenheit und Harmonie. Wie sollte das Lied der Lieder in unserer Zeit auch klingen, wenn nicht in so vielen verschiedenen Sprachen und Stilen wie hier. Vor allem die junge Sopranistin Keren Hadar verbindet die eklektischen Elemente zu einem überzeugenden Ganzen. Mit ihrer biegsamen, silberhellen Stimme, die sowohl europäischem Operngesang als auch orientalische Laute perfekt beherrscht, verleiht sie den vielseitigen Aspekten der Liebe universellen Ausdruck. Die drei Herren (David Feldman, Countertenor, Eitan Drori, Tenor, Ville Lignell, Bass) bewältigten ihre polyphonen Partien mit höchst ausgewogenem Gesang. Das kleine Orchester spielt unter der inspirierten Leitung von Ud Joffe brillant und klangvoll. Gemeinsam mit den Sängern gaben sie so eine höchst harmonische Antwort auf die Frage der Fragen. Die Antwort lautet wie eh und je: Zusammenspiel, Hingabe, Liebe.
Babette Kaiserkern
Babette Kaiserkern
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