Kultur: Das Melodie lebt
Rätselhafte Orte: Das Fajngold in der Berliner Straße / Ein wenig solider als früher
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Rätselhafte Orte: Das Fajngold in der Berliner Straße / Ein wenig solider als früher „Du fehlst!“ steht dreimal mit Kreide auf der für immer verschlossenen Eingangstür des ehemaligen Melodie-Cáfes in der Friedrich-Ebert-Straße. Wer in Potsdam eine Barbour-Steppjacke trägt und den Herbst unter einem Heizpilz verbracht hat, wird das nicht weiter bekümmert haben. Die anderen, Krummnase, die kleine Literatin, die Schauspielerin und die Gruppe der „algerischen Schläfer“, sie alle waren wohl endlos betrübt, dass das schummrigste Lokal der Stadt, die übelste Kaschemme sozusagen, geschlossen wurde. Die Renovierung des Melodie-Kinos samt Café wird vielleicht zu einem zweiten Fall Karstadt. Der Ort scheint für den letzten Hort einer städtischen Szene jedenfalls verloren. Was das Geheimnis von Kim, Stiefel, Bob und Katja auch immer war, der Laden war voll. Zwischen zehn und elf kamen sie alle: Touristen, Gestrandete, Schauspieler, Verliebte, Schachspieler und Lebenskünstler. Es war kalt, eine Belüftung gab es nicht, der Rotwein war richtig schlecht. Aber es waren Typen, es vibrierte, hier wurde gelebt und geliebt. Der Heizpilz war weit weg, Latte Macchiato wagte niemand zu bestellen, nur Störtebecker aus der Flasche. Und nun machen Kim und Stiefel das Fajngold auf, ein der „Blechtrommel“ entlehnter Name. Die Berliner Straße ist vordergründig keine erste Adresse. Anderseits: wer die nötig hat, kann sich den Weg sparen. Und außerdem liegt die neue „Spelunke“ in dichter Nähe zum trendigen Kulturstandort Schiffbauergasse. Schon beim ersten inoffiziellen Antrinken war der an die spröde Gemütlichkeit des Melodies erinnernde Raum von einer bunten Szenemischung gefüllt. Krummnase und die Schauspielerin waren auch wieder da, nur die kleine Literatin noch nicht. Es war wie damals. Stiefel und Kim haben ihre Neigung zu Kupferrohren ausgelebt, das Orange der Wände wird verstärkt vom Kerzenschein, ein Ghettoblaster pustet Musik hinein. Alles ist roh, und doch passiert etwas mit den Gästen - man ist sich seiner gewahr, kein Pseudo, keine wattierte Jacke. Das Melodie lebt wieder auf, mit einigen Verbesserungen. Alles ist ein wenig solider, wer zur Toilette will, muss nicht mehr über den Hof, alles ist offiziell genehmigt, es gibt keine protestierenden Nachbarn mehr und das Fajngold besitzt nun eine Tanzfläche, die auch Kleinkunst möglich macht. Das Jahr fängt gut an. Matthias Hassenpflug Berliner Straße 149, Eröffnungsparty Sylvester, kein Eintritt.
Matthias Hassenpflug
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