Kultur: Das Poesiealbum ist wieder da
Jetzt im Märkischen Verlag Wilhelmshorst: Nr. 277 mit Gedichten von Peter Huchel
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Man griff es am Bahnhofskiosk mit. Es kostete nicht viel. 90 Pfennige. So viel wie ein Brot. Das „Poesiealbum“ aus dem Verlag Neues Leben. Ein Heft Gedichte für die Reise. Und während man in zugigen Zügen durch die Tagebauödnis hinter Bitterfeld ratterte, flohen die Gedanken in die romantischeren Landschaften eines Novalis oder mit Günter Eich auf eine Bahnfahrt von München nach Frankfurt: „Dazwischen Wälder, worin der Herbst verbrannt wird, Landstraßen in den Schmerz, Gewölk, das an Gespräche erinnert ...“
Seit 1967 erschien das „Poesiealbum“ monatlich neu mit einer Gesamtauflage von fünfeinhalb Millionen verkauften Exemplaren. Bei Nr. 276 war 1990 dann Schluss.
Und nun, als wäre nichts gewesen, keine 17 Jahre Zwischen-Zeit, in der manchem unter der Last zu bewältigender Umwälzungen der Sinn für Poesie beinahe abhanden kam, setzt der Märkische Verlag Wilhelmshorst die Lyrik-Reihe fort. Folgerichtig mit der Ausgabe 277. Der Autor aber, der hier zu Wort kommt, wäre in der DDR so nicht veröffentlicht worden: Peter Huchel.
Bernd Jentzsch, alter und neuer Herausgeber des „Poesiealbums“, hatte wenige Jahre, bevor Peter Huchel aus jenem Land fortging, das meinte, ohne seine Gedichte auskommen zu können, schon einmal eine Text-Auswahl für die Veröffentlichung vorbereitet. Kurzes Tauwetter hatte ihn Ende der sechziger Jahre dazu ermutigt. Als sich dann aber doch wieder die Eisdecke schloss und Jentzsch selbst das Land verlassen musste, schaffte er das Manuskript und andere unveröffentlichte Blätter in die Wohnung seiner Mutter. Nach ihrem Tod – der Sohn hatte zur Beerdigung nicht einreisen dürfen – holte die Müllabfuhr fort, was Jentzsch in Sicherheit glaubte. Die damals getroffene Auswahl von Gedichten Peter Huchels aber behielt Jentzsch im Kopf.
Von Huchel war hier zu Lande 1948, also noch vor Gründung der DDR, nur ein einziger Lyrik-Band erschienen. Seit der unbeugsame Dichter 1962 endgültig seinen Posten als erster Chefredakteur der für den Literaturbetrieb im Osten so bedeutsamen Zeitschrift „Sinn und Form“ verloren hatte, lebte er zurückgezogen und isoliert in Wilhelmshorst. Weitere Gedichtbände, wie 1963 „Chausseen, Chausseen“, kamen nur im Westen Deutschlands heraus, wohin Huchel erst 1971 ausreisen durfte. Solche und andere Lücken im Spektrum großer Lyrik, die zu DDR-Zeiten allein aus politischen Gründen aufgerissen waren, will Bernd Jentzsch nun aufarbeiten und schließen. Neue Entdeckungen sollen folgen.
In der äußeren Gestaltung des Heftes hält sich der Märkische Verlag an das von Achim Kollwitz entworfene Original mit grafischem Titelbild und Mittelblatt. Zu Huchels Gedichten steuerte der ebenfalls in Wilhelmshorst lebende Plastiker und Grafiker Manfred Rößler „Die Gaukler“ und eine mit Bleistift gezeichnete Landschaft von 1980 bei.
Zunächst sollen vier Hefte pro Jahr erscheinen, die auch im Abonnement zu beziehen sind. Wächst ein stabiler Abo-Stamm heran, wird die Heftzahl steigen, ähnlich wie in der parallel edierten Anthologie-Reihe „Poesiealbum neu“, die von der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik in Leipzig herausgegeben wird und ihren rund 250 Mitgliedern sowie interessanten Gastautoren ein Podium für neue Texte bietet. Der Preis des Heftes aus Wilhelmshorst liegt mit vier Euro nur wenig über dem gestiegenen Brotpreis. Beste Voraussetzungen also dafür, dass Gedichte wieder, wie einst, zum Lebens-Mittel werden.
Bestellungen und Abo-Wünsche an: Märkischer Verlag, An der Aue 6, 14552 Wilhelmshorst.
Antje Horn-Conrad
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