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Kultur: Das Schlagzeug verteilt Backpfeifen

Der Stummfilmklassiker „Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki“ blieb fast ungesehen

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Der Stummfilmklassiker „Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki“ blieb fast ungesehen Dieser Filmklassiker ist ein typischer Scheinriese. Gern zitiert, selten erlebt. Jeder Cineast hat von Lew Kuleschows legendärem Stummfilm „Die seltsamen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki“ gehört – aber wer hat ihn schon gesehen? Schlimmer noch. Selbst wenn der Scheinriese zum Besuch einlädt, geht keiner hin. Das Hans Otto Theater tafelt alles auf: nicht nur den Klassiker von 1924, sondern auch eine neu komponierte Filmmusik von Bernd Wefelmeyer und Karl Heinz Wahren. Das Deutsche Filmorchester Babelsberg bringt sie einen Tag nach der Uraufführung beim FilmFestival Cottbus nach Potsdam. Trotzdem sitzen mehr Menschen auf dem Podium als im Saal. Was haben die Abwesenden verpasst? Eine herrliche Satire, unterstützt durch pointierte Klänge und Geräusche. Der Amerikaner John West, Vorsitzender des Christlichen Vereins Junger Männer, reist mit einem Cowboy-Begleiter ins raue Russland. Aus heimischen Zeitungen weiß er, dass dort die wilden Bolschewiken herrschen. Barbaren mit Riesenschnauzern, Knochenschmuck und Fellumhängen. Mr. West kleidet sich nach „Landesart“ in einen Pelzmantel. Schwups, sofort ist die Aktentasche weg. Die russischen Ganoven geben sich damit aber nicht zufrieden. Sie verstricken ihn in die erstaunlichsten Geschichten, verkleiden sich nach amerikanischem Hochglanzvorbild als Höhlenmenschen, entführen den arglosen Funktionär, um dann eine spektakuläre Rettungsaktion durch den Kamin zu organisieren. Alles freilich nur, um Mr. West die Dollars aus der Tasche zu ziehen. Wie gut, dass schließlich die echten, fröhlich strahlenden, propperen Bolschewiken kommen, um den armen Ami aus den Fängen der Langfinger zu befreien. Man kommt aus dem Schmunzeln gar nicht heraus. Abgesehen von dem Ende mit der Parade, dem Trotzki und all den bolschewistischen Gutmenschen ist dieser Streifen ein wunderbares Humorzeugnis aus der vorstalinistischen Ära. Ein Lach- und Lehrstück zum Thema Klischeevorstellungen. Die Amerikaner und die Russen existieren nur als Abziehbilder. Der Film dreht die Fantasien in den Köpfen durch den Wolf. Die Musik laviert beim „Film-Live-Konzert“ hinreißend zwischen Country-Fiddle und Kasatschok. Volksmusik aus beiden Ländern klingt in zahlreichen Zitaten an. „Von den blauen Bergen“ kommt der „Säbeltanz“. Der treuherzige Mr. West, der draufgängerische Cowboy, der scheele Oberganove, die Gräfin mit dem verstruwwelten Haar und der geheimnisvolle Einäugige – sie alle werden durch die Musik genau porträtiert. Das Schlagzeug verteilt Backpfeifen. Die russischen Gangster schleichen zum Geigen-Pizzicato. Schlitten und Motorräder inszenieren eine Jagd mit viel Blech und Schlagwerk. Die Musiker liefern unter Helmut Imigs Leitung alle Pointen, auch Pferdegetrappel und Schüsse, rechtzeitig ab. Ein Komponisten-Duo hat die Musik geschrieben. Das ist ungewöhnlich. Aber Karl Heinz Wahren und Bernd Wefelmeyer sind ein eingeschworenes Team. Sie haben 1994 schon Fritz Langs Klassiker „Metropolis“ gemeinsam neu vertont. Auch damals war das Babelsberger Filmorchester ihr Spielpartner. Beide haben einen ausgeprägten Sinn für grenzüberschreitende Projekte. Sie schreiben Jazziges und Sinfonisches. Wefelmeyer hat – neben zwei Opern und zahlreichen anderen E-Musik-Werken – mehr als hundert Kompositionen für Film, Fernsehen und Rundfunk geschrieben. Seit langem unterrichtet er an der Film- und Fernseh-Hochschule „Konrad Wolf“. Wahren, der Vorsitzende des Deutschen Komponistenverbandes, hat nicht nur mit seiner Oper „Fettklößchen“ Furore gemacht. Er hat die experimentierlustige Gruppe Neue Musik Berlin mitbegründet und seit seiner Jugendzeit sein Faible für den Jazz ausgelebt. Der Stummfilmauftrag kam sehr kurzfristig. Die beiden Komponisten hatten nur zwei Monate Zeit. Sie haben die Szenen untereinander aufgeteilt. Brüche sind trotzdem nicht zu spüren. Gemeinsam charakterisieren sie Personen und Gegenstände des Films. Karohemd, Halstuch, Colt, Fellmantel und Lederhandschuhe werden zu lebenden Requisiten. Sonja Lenz

Sonja Lenz

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