Kultur: Das Unrecht hat keine Nationalität
In der Lindenstraße 54 sprach Witold Kulesza über die Untersuchung von Verbrechen gegen die polnische Nation
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In der Lindenstraße 54 sprach Witold Kulesza über die Untersuchung von Verbrechen gegen die polnische Nation Die letzte Runde der internationalen Zeitzeugengespräche an seltsamem Ort: in der Lindenstr. 54. Eine Veranstaltung des „Kulturjahres der Zehn“ mit Potsdam 2010 und der Gedenkstätte gegen Gewalt. Geschichte und Tätigkeit des letzten Gastes, Witold Kulesza, den Hendrik Röder vorstellt, fügen sich in die Thematik des Ortes. Witold Kulesza wurde 1950 geboren. Lange verschwieg der Vater, dass er ein Überlebender des Todeslagers in Auschwitz ist. Erst als der Sohn bereits in die Oberschule geht und Fragen stellt, redet der Vater. Das Grauen setzt nur bruchstückhaft Erlebtes frei. So erfährt der Sohn, dass der Vater der einzige Überlebende der Familie ist. Die Schwester mit dem Baby schon bei der Ankunft für den Tod ausgesondert wurde. Da steht der Berufswunsch des Sohnes fest. Er studiert Jura an der Universität in Lodz. Legt 1973 sein Staatsexamen ab, promoviert und habilitiert an gleichem Ort. Seit dem Studium beschäftigt er sich mit Verbrechen gegen die polnische Nation. Zunächst in der NS- Zeit, nach 1990 mit Verbrechen zur Zeit der kommunistischen Herrschaft. 1998 wird Kulesza als Staatsanwalt zum Direktor der Hauptkommission zur Untersuchung von Verbrechen gegen die polnische Nation berufen, ist extraordinärer Professor und stellvertretender Generalstaatsanwalt der Republik Polen. Kulesza erklärt den Aufbau seiner Institution, die der deutschen Birthlerbehörde ähnelt: 1. Abteilung - Sammlung der Akten, 2. Abteilung - Öffentlichkeitsarbeit, 3. Abteilung - Staatsanwaltschaft. Diese Abteilung unterliegt seiner Zuständigkeit. Augenblicklich ermittelten 95 Staatsanwälte gegen nationalsozialistische und kommunistische Täter gleichermaßen. Etwa hundert Prozesse seien seit Bestehen der Kommission geführt worden. Gegen ehemalige Offiziere der Staatssicherheit, die politische Gefangene folterten und misshandelten. Die Prozesse hätten bisher nur eine einzige Verurteilung zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe ergeben. Trotz eindeutiger Beweislage und Zeugenaussagen seien nur Freispruch und Bewährungsstrafen in der Mehrzahl erwirkt worden. Die Verfahren der Justizverbrechen zur Zeit des Kriegsrechts in Polen sind noch in der Vorbereitung. Und nur noch wenig Zeit bliebe. Ab 2010 gilt die Verjährung. Die Frage Röders, ob das Unrecht eine Nationalität habe, beantwortet Kulesza mit einem entschiedenen Nein. Nur die Täter und Opfer hätten eine Nationalität. Er berichtet von der Ermordung polnischer Juden durch polnische Nationalisten nach 1945. Von einem Justizverbrechen polnischer Staatsanwälte 1946 an einem deutschen Mann (Hans Baumann). Dieser erhielt damals die Todesstrafe für Wilddieberei. Auch die Wiederaufnahme des Verfahrens nach 1990 blieb für die Staatsanwälte folgenlos. Damit schließe sich für ihn immer wieder der „Teufelskreis des Unrechts“. Und das sagt Kulesza nicht einmal resigniert. Eher hoffnungsvoll und kämpferisch. Denn das Unrecht hat ein Forum bekommen. Ist öffentlich gemacht worden. Für die Opfer und deren Angehörige wäre das ungenügend, sie benötigten die Satisfaktion. Er berichtet von seinen Verhandlungen in Moskau mit Staatsanwälten der russischen Förderation über den Massenmord von Katyn, dem 1941 22 000 polnische Offiziere, Intellektuelle und Kriegsgefangene zum Opfer fielen. Trotz der eindeutigen Beweislage bezweifeln noch immer die russischen Staatsanwälte, dass sowjetische Soldaten an Kriegsverbrechen jemals beteiligt waren. Noch immer verschleiert und verschleppt Ideologie die Wahrheitsfindung. Wie viele inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit es in der Volksrepublik Polen gegeben habe? Wird aus dem Publikum gefragt. Von der DDR könne man inzwischen mit Sicherheit von einer Dichte von 1:10 sprechen. In Polen könne die Zahl bisher nur geschätzt werden. Von 1944 bis 1989 rechnet man mit einer Zahl von etwa einer Million inoffizieller Mitarbeiter. Bei der Länge der Zeit und der Größe des Landes ein vergleichsweise verschwindender Anteil. Kulesza berichtet, dass bisher 22000 polnische Bürger in ihre Akten eingesehen haben. Wie das Ansehen der Institution im Lande wäre? Unterschiedlich. Von vielen polnischen Juristen werden er und seine Mitarbeiter als Nestbeschmutzer bezeichnet. Wie seine Kollegen in Ludwigsburg. Nicht alle Fragen des Publikums können wegen der fortgeschrittenen Zeit beantwortet werden. Dafür wird auf eine umfangreiche Publikation aller Diskussionsbeiträge des „Kulturjahres der Zehn" verwiesen, die in Arbeit ist.
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