Kultur: „Das wiederholt sich “
Jens Becker stellt morgen sein Buch „Kurzschluß“ über den Amoklauf von Erfurt in Potsdam vor
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Jens Becker stellt morgen sein Buch „Kurzschluß“ über den Amoklauf von Erfurt in Potsdam vor „Bleibet nah bei Euren Kindern tröstet ihr Weinen und hütet ihr Lachen. Bessres als Kinder ist nicht zu machen.“ Dieser schlichte Vierzeiler kommt Utta Wolff in den Sinn, als sie über das Massaker von Erfurt spricht. Genau drei Jahre sind es her, als die 60-jährige Lehrerin ihren Mann verlor: Peter Wolff, ebenfalls Lehrer, allerdings am Gutenberg-Gymnasium, was ihm und weiteren 16 Menschen zum tödlichen Verhängnis wurde. Was ist heute anders, als an jenem Tag, als Robert Steinhäuser durch seine ehemalige Schule zog und kaltblütig Lehrer und Mitschüler nieder schoss? Wieder schwitzen in diesen Tagen Tausende Abiturienten über ihren Klausuren, um einen bestmöglichen Abschluss eifernd. Müssen sich Schüler vor einer Kurzschlussreaktion eines Kommilitonen fürchten? Oder hat Erfurt etwas verändert? „Dieser Amoklauf war keine Kurzschlussreaktion, sondern ein sorgfältig vorbereiteter Rachefeldzug. Der Kurzschluss fand auf der anderen Seite statt, im Leben der Opfer und deren Angehörigen. Jetzt, nach drei Jahren, werden die Langzeitfolgen des Amoklaufs bei allen Beteiligten sichtbar. Sie haben erfahren, dass die Gewalt die Schwelle unserer Haustür überschritten hat.“ Der Autor und Regisseur Jens Becker, der sich bereits in den Filmen „Ausnahmezustand“ und „Die Kerzen von Erfurt“ mit diesem größten Massenmord in Deutschland seit dem Kriegsende auseinander setzte, hat sich nun auch in Buchform mit der unfassbaren Tat des 19-Jährigen und deren Folgen beschäftigt. Der Autor blieb dabei ganz am Wort der Betroffenen und schuf damit die größte Unmittelbarkeit. Noch immer treten die aufwühlenden Erinnerungen eine Welle der Erschütterung los, muss man immer wieder beim Lesen inne halten. Doch die Gespräche bleiben nicht im Beschreiben des Unfassbaren stecken. Lehrer, Schüler, Politiker, Pfarrer, Psychologen reflektieren im zeitlichen Abstand, was dieses Ereignis bei ihnen ausgelöst hat, wo sie die Ursachen für die Gewalttat vermuten. „Viel stärker als früher beobachte ich heute in jeder Stunde, ob ich die Schüler noch alle unter Kontrolle habe. Wo sind die eigentlich mit ihren Gedanken? Da ich damals den Robert Steinhäuser in Physik hatte und ihm nichts ansah und nicht geahnt habe, was der vorhat, gucke ich heute mit sehr wachem Blick durch die Klassen“, sagt Lutz Pockel. Die Anforderungen der Eltern, von anderen und an sich selbst habe Robert nie erfüllen können: „Ein Misserfolg reihte sich an den nächsten. Möglicherweise hat er sich dadurch eingeigelt und keiner war da, der sich wirklich um ihn gekümmert hätte.“ Der Physiklehrer registrierte nach der Wende einen wachsenden Abstand zu seinen Schülern. „Da war ich manchmal nur noch Stundengeber, Dienstleister. Und die Schüler wollten gar nichts weiter mit dem Lehrer da vorn anfangen Die Ablenkungsfaktoren jeden Tag sind so groß, und daran muss sich die Schule andauernd messen. Ich muss mir ganz schön was einfallen lassen, um an die Schüler noch ranzukommen.“ Die Traumtherapeutin Gabriele Kluwe-Schleberger stellt rigoros fest: „Unser Schulsystem ist verkehrt. Wir müssen zum Beispiel auch Fehler belohnen, denn wir lernen durch Fehler. Und das funktioniert nur ohne Druck und ohne Demütigung.“ Sie glaubt, wenn die Lehrer wieder Spaß an der Schule bekämen, dann bräuchten sie nicht mehr demütigen, nicht mehr aggressiv zu sein. „Kinder sind ein ganz großes Geschenk. Aber das leben wir in unserer Gesellschaft nicht. Kinder stören hier. Ein Kind darf nicht laut lachen, darf sich nicht viel bewegen. Das kriegt sonst gleich ein ADH- oder Zappelphilipp-Syndrom angehängt.“ Bei jedem Lehrer müssten sofort die Alarmglocken läuten, wenn ein Schüler besonders auffällt oder überhaupt nicht auffällt, so die Therapeutin. Wenn Kinder die Hoffnung verlieren, gebe es zwei Richtungen, in die sie gehen können: in die Depression, das seien dann die Selbstmorde oder in die Aggression, die sich gegen andere richte. Mehrfach wurde in Beckers vielschichtiger Dokumentation der ständige Wechsel der Klassenlehrer kritisiert und auch fehlende Klassenleiter-Stunden, wodurch die Zuwendung oft zu kurz komme. Und wer den Anforderungen fürs Gymnasium nicht gewachsen sei, der sollte auch nicht mehr mitgeschleift werden – nur weil die Eltern es so wollen. Wer wirklich nah bei seinen Kindern bleibt, auch wenn es in schwierigen Situationen ist, dem könne das eigentlich nicht passieren, was Roberts Eltern durchlebten, glaubt Utta Wolff. „Ich bin mir sicher – so eine Tat wie die von Robert, die wiederholt sich. Vielleicht schon morgen“, mußmaßt Anke Röschke, die Kunsterziehungs-Lehrerin. Sie wünscht sich, dass die Leute aufwachen und gucken, was man in der Gesellschaft verändern müsse. Wie man wirklich mit seinen Mitmenschen umgehe. „Man kann ja so ziemlich jedem ein Stück Schuld zuschieben: dem Waffengesetz, den Eltern, den Lehrern, den Mitschülern, den abartigen Computerspielen. Aber im Endeffekt war er es und nur er allein!“, so die 18-jährige Nelli über den von Hass gesteuerten Mitschüler Robert Steinhäuser, der keinen Ausweg mehr wusste – und der der siebzehnte Tote der „Abrechnung“ war. Heidi Jäger Der Autor Jens Becker stellt sein Buch „Kurzschluß“ (Schwarzkoff-Buchwerke-Verlag, 18 Euro) morgen um 19. 30 Uhr in der Kleist-Abendschule vor.
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