Kultur: Das wilde Kino unserer Urgroßeltern
„Unheimliche Geschichten“ von 1919 / Filmklassiker vorgestellt im Filmmuseum und in den PNN / Von Gudo Altendorf
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Vor allem Babelsberger Filmgeschichte wird im Filmmuseum Potsdam „ gehegt und gepflegt“. Das heißt die vielfältigen Dokumente, Kostüme, die Technik, Sammlungen von Künstlern werden gesammelt und dem Publikum in Ausstellungen präsentiert. Und natürlich kommen die Filme, die unsere Urgroßeltern erlebten zur Wiederaufführung. In unserer Serie, die mit dem Museum entstand, wollen wir Filmklassiker und ihre Schöpfer vorstellen. Es lohnt, sie aus der Versenkung zu holen.
Wild sind die Zeiten allemal, als der Film „Unheimliche Geschichten“ im Oktober 1919 uraufgeführt wird. Erster Weltkrieg, Novemberrevolution, Spartakusaufstand und nun sieht Deutschland einem dritten „Kohlrübenwinter“ entgegen. Wild geht es auch in deutschen Kinos her. Es ist die Zeit der „Tyrannenfilme“, in denen das gestörte Verhältnis zu Autoritäten thematisiert wird. Geister, Tod und Teufel treiben auf den Leinwänden ihr Unwesen.
Fünf „Unheimliche Geschichten“ variieren das Thema Angst – eine Kinodiagnose für Nachkriegsdeutsche. So entsteht nicht nur ein Horrorfilm sondern ein spannendes und durchaus aktuelles Zeitdokument. Die erste Episode, „Die Erscheinung“, erzählt die Geschichte eines Mannes und einer Frau, die in einem Hotel absteigen. Er will nachts zu seiner Angebeteten aber ihr Zimmer ist eine Baustelle. Angestellte und Polizei leugnen, die Dame je gesehen zu haben. Verlusterfahrung und Behördenwillkür kennen die Zuschauer. Die Filmverschollene starb an der Pest. Vor der Kinotür rafft 1919 die Grippepandemie über 20 Millionen Menschen dahin. In der Episode „Die Hand“ erwürgt ein Mann seinen Rivalen. Anklagend reckt sich die Hand des Toten dem Mörder entgegen: Ein Bild für das Grauen des Ersten Weltkrieges, wo totenstarre Hände nach Gasangriffen aus den Schlachtfeldern wuchsen.
Die nächste Episode stellt deutsche Häuslichkeit infrage. Die Ehefrau muss einen harmlosen Flirt mit dem Leben bezahlen. Der trunksüchtige Ehemann erschlägt sie und mauert die Leiche samt der possierlichen Hauskatze im Keller ein. Geschichte Nummer vier handelt von Gruppenselbstmord und nichts anderes als kollektiver Selbstmord war ja der gerade beendete Krieg. Selbstmörderklubs werden wenig später bei der orientierungslosen Jugend populär. In der letzten Episode „Der Spuk“ entlarvt ein impotenter Ehemann den Verehrer seiner Frau. Viele versehrte Kriegsheimkehrer werden sich mit diesem Gatten identifiziert haben. Es ist weitaus erotischer, der Ehefrau dabei zu zuschauen, wie sie einen Degen in die Scheide führt, als manches was heute als „gewagt“ angepriesen wird. Diese Frau wird von Anita Berber gespielt, einer der Skandalnudeln der Weimarer Jahre, sexuell ungehemmt, drogensüchtig und maßlos. Rosa von Praunheim hat ihr 1988 mit „Anita. Tänze des Lasters“ ein filmisches Denkmal gesetzt. Weil nur wenige ihrer Filme erhalten sind, ist „Unheimliche Geschichten“ auch eine der seltenen Gelegenheiten, die Legende Anita Berber in mehreren Rollen zu erleben. Regisseur Richard Oswald, dessen Name vor allem mit freizügigen „Aufklärungsfilmen“ assoziiert wird, machte Kino für jedermann. „Es kommt nur auf die Schauspieler an. Der beste Regisseur ist oft der, den man nicht merkt.“ Uneitel und großzügig überließ er in „Unheimliche Geschichten“ seinen Stars das Feld. Ihnen verdankt der Film unvergessliche Momente: Conrad Veidts Todeskampf, Reinhold Schünzels süffisante Blicke auf die Polizeibeamten, die die Leiche seiner Frau nicht finden oder Anita Berbers aufreizendes Spiel.
Eine stimmige musikalische Begleitung garantiert in der Vorstellung am kommenden Freitag um 20 Uhr Stephan von Bothmer an der Welte-Kinoorgel.
Der Autor dieses Beitrages ist Filmhistoriker am Filmmuseum Potsdam
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