Kultur: Das Wilsnacklaufen
Rainer Oefelein war in der arche „Auf den Spuren des mittelalterlichen Pilgerweges Berlin – Wilsnack“
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„Wanderer, kommst du nach Spa, verkündige dorten, du habest uns hier liegen gesehen, wie das Gesetz es befahl“, heißt es in einer griechischen Inschrift des Jahres 480 v. Chr. Kommst du aber nach Wilsnack, so hast du anderes zu berichten, denn hier „ist der Weg das Ziel“. So jedenfalls steht es in einer neuen „Outdoor“-Broschüre, welche den alten Pilgerweg von Berlin bis in das unerforschte Städtchen am Flusse Karthane für Pilgrime und ganz gewöhnliche Wandersleute nachzeichnet. Am Dienstag stellte der Autor Rainer Oefelein dieses so praktische wie kulturhistorisch interessante Büchlein gemeinsam mit seiner Gattin Cornelia in der arche vor. Dem promoviertem Ehepaar – er ist Architekt und Hochschullehrer, sie Historikerin – erschien die einjährige Spurensuche von der Berliner Marienkirche über Hennigsdorf, Fehrbellin und Kyritz selbst eine ungewöhnliche Pilgrimage, denn in den ersten Landkarten Deutschlands (um 1450) waren zwar Orte, aber keine Wege eingezeichnet. Der Professor konnte sich nur auf die Pionierarbeit des Hobby-Histors Wolfgang Holtz stützen, hatte dieser doch 1989 wenigstens den alten Postweg nach Hamburg rekonstruiert. Beide Routen stimmen zwar nicht überein, aber sie gaben erste Hinweise. Vor allem abseits konnte man unglaubliche Entdeckungen machen. In Orten wie Nackel, Wusterhausen oder Plattenburg entdeckten die beiden geradezu ungehobene Schätze, übertünchte Wandmalereien aus dem Mittelalter, einen Taufstein „mit geheimnisvollen Darstellungen“, Glocken mit aufgegossenen Pilgerzeichen, welche das Woher und Wohin der bußfertigen „Wilsnackläufer“ bezeugen. Rainer Oefelein kennt sich in dieser Materie gut aus, er sammelte bereits in Frankreich und Spanien „kilometerlange“ Erfahrungen mit solch alten Büßerwegen.
Pilgern war „im Mittelalter“ eine Massenbewegung. Man schätzt, ein Viertel der Bevölkerung Europas sei zwischen dem 13. und dem 15. Jahrhundert unterwegs gewesen. Allein Wilsnack zählte noch vor 500 Jahren hunderttausende Pilger aus aller Herren Länder, die bis zur Reformation in der Wunderblutkirche St. Nikolai ihr Ziel fanden. Zeugnisse solcher Umtriebigkeit sind zwar spärlich, doch überall erhalten. So entdeckte der Autor im Pfarrhaus von Segeletz eine gotische Madonna mit ungeheurer Ausstrahlungskraft, in Söllenthin einen spätgotischen Kreuzigungsaltar. Auch Wilsnack war voller Überraschungen: Im Sakristeischrank der Wunderblutkapelle fand er neben zernagten Messbüchern, Skulpturenteilen und einem Geldbeutel jener Tage auch den Schädel Burchard von Salderns. In einem Schuhkarton! Rätsel über Rätsel: Ein mehr als vier Meter langer, mit hunderten Holznägeln bespickter „Baum“ ist genauso unerforscht wie die Frage, warum der Wilsnacker „Wunderschrein“ sich in einem Nebenraum befindet, wo ihn „hunderttausende von Pilgern“ unmöglich ehren konnten.
Dank der Oeferlein''schen Pionierarbeit kann man heute wieder auf diesem Teil des „alten Jakobsweges“ gen Karthane wandeln. Die 130-Kilometer-Strecke (nur fünf Prozent Straße, sonst Feldwege) ist rekonstruiert, mit dem Wilsnacker Pilgerzeichen ausgeschildert, auch wenn alle Gründe, warum man ehedem wallfahrtete – zur Buße, durch testamentarische Verfügung oder wegen grober Störung einer Hochzeitsfeier – heute weggefallen sein dürften. Die im Carl Stein Verlag erschienene Broschur ist ein wunderbarer Wegweiser: geistliche Richtschnur dem einen, kulturhistorischer Führer dem anderen. Und am Wege kann man sie allesamt liegen sehen, im Gedächtnis an Spa: die von Bredows, von Ziethen, die Bassewitze, die von Saldern – die hohen Herren der Mark Brandenburg. Nun ziehe, Wanderer, hin, denn hier ist der Weg tatsächlich das Ziel. Gerold Paul
Gerold Paul
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