Kultur: Das Wunder des Überlebens
Ergreifende Dokumentarfilm-Premiere über Workuta-Häftlinge im Filmmuseum Potsdam
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Ergreifende Dokumentarfilm-Premiere über Workuta-Häftlinge im Filmmuseum Potsdam Schneeschwaden rasen über die Geröllstraße, der Wind ist so stark, dass er unablässig ins Mikrofon pfeift. Es gibt keinen Horizont. Im Dokumentarfilm des Potsdamer Filmemachers Erik S. Tesch „Eisgang – Deutsche im GULag“ ist der Zug, mit dem das Filmteam die ehemalige Gefangene Ursula Rumin auf ihre Reise in die Vergangenheit begleitet hat, gerade in Workuta angekommen. Nur 130 km vom Eismeer entfernt. Der erste Eindruck der fünf im Film gefragten Zeitzeugen: „Kälte, Stacheldraht und Hundegebell“. Auf den Plätzen im beinahe ausverkauften Kino im Filmmuseum kroch förmlich Eiseskälte die Beine hinauf. Teschs Dokumentation versucht, Bilder zu finden für das entsetzliche Leid, das die Opfer schon bei dem Versuch einer Erinnerung immer wieder an den Rande der Tränen führt. Insgesamt zwei Millionen Häftlinge, darunter 35000 Deutsche, aus mehr als 30 Nationen sollen in den Kohleminen geschunden worden sein. „Wir waren Sklaven“, sagt eine russische Überlebende, die noch immer in Workuta wohnt. Die Suche nach geeigneten Bildern, so der Regisseur im Filmgespräch mit Knut Elstermann, wäre trotz Vorbereitung einer „Fahrt ins Blaue“ gleichgekommen. Denn die unwirtliche Umgebung mit minus 60 Grad Kälte im Winter und dem beißenden Wind hätten alle Gebäude, zunächst die Holzbaracken der Gefangenen, längst verschwinden lassen. Dazu kämen Schwierigkeiten, von Behörden und Archive Drehgenehmigungen zu erhalten. Seit Putin wäre der Zugang zu den historischen Archiven sogar schlechter geworden, so Teschs Erfahrung. Der Regisseur hat dennoch historisches Material, Propagandafilme und die Originale der Häftlingsfotos, gefunden, und dieses mit den Bildern des aktuellen Workuta und Interviews mit den fünf ehemaligen Häftlingen zu seinem Film zusammen gefügt. Der Film zeigt, dass in Workuta immer noch ein Gefangenenlager existiert, auch wenn der Kohleabbau durch Gefangene eingestellt wurde. „Die Stadt lebt von zwei Faktoren: der Kohle und dem Erinnerungstourismus“, so Tesch, dem die Gegenwartskomponente sehr wichtig ist, denn bis heute hätten sich weder Russen noch Deutsche der Verantwortung gegenüber den ehemaligen Häftlingen gestellt. Schockierend deshalb das Interview mit dem Bürgermeister von Workuta, in dem er den Bau eines Fünf-Sterne-Hotels für die Touristen und eines Nachbaus des GULag ankündigt, um den Extremtourismus zu befriedigen. Wie verkraftet man die jahrelange Tortur aus Hunger, Demütigung und Gewalt? Peter Seele ist einer der fünf Zeugen und saß auf dem Podium. Seele wurde als 25jähriger gänzlich unschuldig vom NKDW, dem sowjetischen Militärgeheimdienst, gefangen genommen und zum Tode verurteilt. Er kam in das Gefängnis in der Leistikowstraße, das heute eine Gedenkstätte ist. Teschs Film folgt Seele in den Keller des Hauses, wo er zwei Monate auf seine Hinrichtung wartete. „Als ich meiner Frau die Zelle nun gezeigt habe," erzählt Seele mit zitternder Stimme dem Publikum, „mußte sie weinen“. In Potsdam wurde er zu seiner Erschießung geführt, die Schüsse fielen jedoch nur zur Einschüchterung. Er wurde „begnadigt“ und zu 25 Jahren Zwangsarbeit in Workuta verurteilt. Seine Familie erfuhr erst kurz vor seiner Entlassung im Jahr 1955, wo er sich befand. Es ist ein „Wunder des Überlebens“, wie Knut Elstermann sagte, dass Seele und die anderen Befragten heute so gefaßt und detailliert vom Grauen, das der Mensch anderen Menschen zu bereiten in der Lage ist, erzählen können. Von den zwölf Stunden Arbeit bei nur trockenem Brot als Nahrung, dem Streik im Lager, der zu 60 Toten und Hunderten Verletzten führte, den vielen Todeserfahrungen. Ein Zuschauer entschuldigt sich für seine pathetischen Worte und sagt dann doch etwas, was die Meinung des beklommenen bis ergriffenen Publikums gut beschreibt: „Dieser Film ist grandios, weil er der Wahrheit so nahe kommt“. Matthias Hassenpflug Erik S. Teschs Film wird in einer 60 Minuten-Fassung in den Fernsehprogrammen des WDR, MDR (hier in der 85 min. Langfassung), NDR und Arte gezeigt.
Matthias Hassenpflug
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