Kultur: Demokratie und Europa
Heinrich August Winkler bei der „Tafelrunde“
Stand:
Wie viel Zeitgeist, wie viel Tendenz, wie viel Parteidenken darf sich ein Historiker für neuere und neueste Zeitgeschichte eigentlich erlauben, ohne ideologischer Gesinnung verdächtigt zu werden? Welches Publikum wollte sich andererseits trauen, einem verdienstvollen Mann wie Heinrich August Winkler, geboren 1938 in Königsberg, universitär geprüft und bestätigt in Geschichte, öffentlichem Recht und Philosophie, bei seinen Ausführungen zu seinem dickleibigen Zweibänder „Über Deutschland und den Westen“ am Mittwoch in Potsdam kritisch ins Wort zu fallen? Auch Klaus Rost, Moderator der „Tafelrunde Sanssouci“ im Ovid-Saal der Neuen Kammern sicherlich nicht. In Bezug auf die unvollendeten EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei meinte der Wissenschaftler, jahrzehntelang Mitglied bei der SPD, wir könnten uns jetzt auch „keinen Nationalismus-Import“ leisten, denn was derzeit auf dem Kontinent geschehe, sei eine „gewollte Bewegung gegen ihn“.
In „Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert“ (C. H. Beck Verlag, 38 Euro) setzt sich Winkler mit der europäischen Geschichte seit Perikles auseinander, einmal um zu beweisen, dass Demokratie und Fortschritt Europas Sache immer schon war. Andererseits möchte er zeigen, wie gut und sicher Deutschland im Westen angekommen und aufgehoben sei. Unter diesem Begriff fasst er die angebliche Wertegemeinschaft von Europa über Nordamerika bis nach Australien zusammen, alles im treuesten Geiste Kants. Für Winkler beginnen die Schritte in eine scheinbar gesicherte Zukunft nicht unbedingt beim griechischen Gesetzgeber Perikles, weil dieser, nach Thukydides, ein Selbstherrscher gewesen sei, was jeder Demokrat ja aus tiefstem Herzen verabscheut. Vom Investiturstreit über Reformation und Aufklärung bis tief ins 20. Jahrhundert hinein findet er aber überall sichere Spuren der Zukunft, jede geschichtliche Bewegung, die Gewalten teilte und von zentralistischen Strukturen (Reich, Kirche) wegführte, ist dem Historiker willkommen. Was die Deutsche Frage angeht, sieht er den alten Dualismus zwischen „Teilhabe an der Aufklärung und Verweigerung der politischen Konsequenzen“ erst im Europa-Gedanken von heute umgesetzt. Das zunehmend selbstkritische Verhalten der Deutschen gegenüber dem Zivilisationsbruch Auschwitz und der Kriegsschuld weit nach 1945 sei der entscheidende Schritt für eine Verwestlichung Deutschlands gewesen. Die Deutsche Frage, die Frage nach den Grenzen und der territoriale Ordnung Deutschlands, sieht er als gelöst, die europäische noch nicht.
Es folgten ideologische Bemerkungen zu Griechenland, zum Euro und der Zukunft der Aufklärung. Scheinbar glaubt Heinrich August Winkler den Politikern aufs Wort, träumt mit ihnen von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Unverfroren sei, wer sich diesem Prozess in den Weg stelle: Na, über das Wort denke erst mal einer nach! Gerold Paul
Gerold Paul
- showPaywall:
- false
- isSubscriber:
- false
- isPaid: