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Kultur: Der Blick zurück

Dokumentarfilmer erinnern sich: Im Filmmuseum wurde das Buch „Das Prinzip Neugier“ vorgestellt

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Als der Spiel- und Dokumentarfilmer Kurt Maetzig im vorigen Jahr nach der Bedeutung der Defa gefragt wurde, hob er neben den bekannten Irrwegen folgende Punkte hervor: das gemeinsame Credo Deutschland ohne Faschismus und Krieg, ein kontinuierliches und konkurrenzfreies Arbeiten durch die Existenz fester Drehteams, Fokussierung auf Inhalt und Qualität statt auf Geld und Kommerz. Da der Erfinder des legendären „Augenzeugen“ auch der älteste seiner Kollegen war, wurde ihm posthum die Ehre zuteil, im gerade erschienenen Sammel- und Interviewband „Das Prinzip Neugier. Defa-Dokumentarfilmer erzählen“ den Ersten zu machen.

Am Donnerstag wurde die dickleibige Neuerscheinung im vollbesetzten Filmmuseum präsentiert. Ehrengast war Gisela May, die zwar nie selbst gedreht hat, wohl aber im Hauptstück des Abends, einer fast 90-minütigen Darstellung über Leben und Werk des Weltrevolutionärs und Komponisten Hanns Eisler, präsent war. Diese Fernsehproduktion von 1973 ließ noch einmal heiße Herzen glühen, als man Angela Davis wiederbegegnete und sah, wie der Imperialismus Kriege führte und Demonstranten zusammenknüppelte, während im sozialistischen Teil der Welt froh an einer besseren Zukunft gebastelt wurde. Mit Eislers Liedern, klar.

Es gab staatliche Eingriffe, räumte Günter Lippmann, einer der Filmautoren, in der anschließenden Gesprächsrunde ein. „Zensur gehörte zum Berufsbild“, so Lippmann. Zugleich dokumentiere gerade dieser Film, mit welch ästhetischen Standards man damals arbeitete. „Das war noch Stil“, rief sein Kollege Peter Rocha aus. Kurt Tetzlaff war beim Talken der Dritte im Bunde. Es ging um die Wahrhaftigkeit beim Arbeiten, um Reglementierungen, um Privilegien: „Wir waren auch nützliche Idioten.“

Das mehr als 600-seitige Buch (Verlag Das Neue Berlin, 29,95 Euro) selbst ist der unermüdlichen und leidenschaftlichen Arbeit von Ingrid Pross, Anne Richter und Christine Mückenberger zu danken. Sie haben weder Zeit noch Mühen gescheut, das umfangreiche Erinnerungsmaterial, darunter achtstündige Interviews, in eine redaktionell brauchbare Form zu bringen. Die finanzielle Seite sah ganz anders aus: Wie selten sind gute Bücher, die im Ehrenamt und fast ohne öffentliche Gelder zustande kommen! 21 Namen findet man in diesem Buch, darunter Gitta Nickel, Karl Gass, Volker Koepp, „Golzow“-Dokumentarist Winfried Junge, Walter Heynowski und Joachim Tschirner.

In den Defa-Dokfilmstudios entstanden zwischen 1946 und 1992, dem Jahr ihrer Abwicklung, mehr als 10 000 Produktionen, die jetzt sukzessive restauriert und ins Internet gestellt werden sollen. Allerdings hat das Spielfilm-Genre da einen Vorsprung. Im Dokumentarbereich sei das meiste, wie sonderbar, noch nicht einmal gesichtet, war zu hören. Bärbel Dallichow, Direktorin im Filmmuseum, sprach von einem ungehobenem Schatz, wofür „Das Prinzip Neugier“ ein Schlüssel sein könnte. Neugier gut und schön. Trotzdem hat solch treue Erinnerungskultur ein Häkchen. Kamen nicht beinah alle Großen der Zunft aus dem gleichen Stall, darin das Motto „Ändere die Welt, sie braucht es“ gepredigt wurde – genau wie im Eisler-Film am Abend, wo man den Menschen mit Ernst Buschs Fanfarenstimme eine Zukunft verhieß, die nie eingelöst wurde? Wo alle Kunst zuerst gesellschaftliche Funktion zu sein hatte, obwohl es Besseres gab?

Nicht einer der Talk-Gäste hat sich von diesen marxistischen Stammdogmen distanziert, nicht einer ein kritisches Wort über die Gegenwart verloren, über die Filtermechanismen der Branche heute. Aber das passiert ja inzwischen allen, beim seligen Erinnern. Bleibt zu hoffen, dass das geschriebene Wort im Buch prinzipiell fruchtbarer ist als die flüchtige Zunge im öffentlichen Disput. Gerold Paul

Gerold Paul

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