Kultur: Der ganz große Wahnsinn
Die Berliner Autorin Marion Poschmann wurde für ihren Roman „Die Sonnenposition“ mit dem „Kleinen Hei“ ausgezeichnet
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Diesmal sprengt er das Format: Der „Kleine Hei“, Potsdams Literaturpreis, passte bislang immer ins Regal oder in die Handtasche. In diesem Jahr hat ihn die Künstlerin Steffi Ribbe gestaltet - und eine armlange Skulptur, beklebt mit Seiten aus dem Volksfremdwörterbuch von Wilhelm Liebknecht, daraus gemacht. Der Gewinnerin Marion Poschmann gefällt das – dabei wirkt die Autorin, die mit ihrem Roman „Die Sonnenposition“ auch auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, eher schüchtern, alles andere als größenwahnsinnig auf jeden Fall.
Leise liest sie am Dienstagabend im Literaturladen Wist, der auch den Preis vergibt, aus ihrem Buch, dieser Geschichte um den Psychiater Altfried Janich, der nach der Wende Leiter einer Anstalt in Brandenburg wird. Die ist im sogenannten Ostschloss untergebracht, einem langsam vor sich hinbröckelnden Barockbau, in dem einige Räume vom DDR-Holzschutzmittel verseucht sind. Diesen Teil des Schlosses meiden die Ratten, die Altfried auf seinen nächtlichen Wanderungen durchs Haus überall sieht – und direkt darunter liegt die Küche. Ganz trocken lässt Poschmann solche Sätze ihres Ich-Erzählers aufeinanderprallen - und man muss gut hinhören, um ihren großartigen Humor nicht zu verpassen.
Denn eigentlich ist es eine traurige Geschichte, die Poschmann da erzählt: Gleich zu Beginn stirbt Altfrieds bester Freund Odilo bei einem Autounfall, was eine Art Krise bei Altfried auslöst. Zugleich aber will er seinen Patienten Halt und Trost geben, für sie die Sonnenposition einnehmen. Deren Schicksale umreißt Poschmann in kleinen Fallbeispielen – knapp, präzise und erschütternd. Diese Vorgeschichten der Eingewiesenen – etwa die der Frau, die ihr Baby, unbemerkt von der Familie, im Badezimmer zur Welt bringt und erstickt – haben einen eigenen Erzählrhythmus. Sie sind der Kontrapunkt zur groß ausgebreitet Geschichte von Altfried und Odilo, die aber zugleich auf die Grundfrage des ganzen Romans verweisen: Wo ist der Punkt, an dem jemand von der Normalität abweicht, die Grenze zum Wahnsinn überschreitet. Auch bei Altfried ist irgendwann nicht mehr ganz klar: Ist er nun Arzt oder Patient?
Eigentlich aber, sagt Poschmann, spiele die Handlung gar keine so große Rolle, wichtig sind ihr die Motivnetze, die sich durch das Buch ziehen. Eines dieser Motive ist die Schlaflosigkeit – erst litt Odilo daran und dann, nach dessen Tod, auch Altfried. Der besitzt zwei Schlafanzüge, die ihn „angemessen kleiden“. Doch eines Nachts ist der Gummi lose und die Hose rutscht ihm mit Nadelstreifen-Eleganz herab auf die Füße. So kann er nicht schlafen, und deshalb geistert er durchs Schloss, auf der Suche nach einem Mitternachtssnack. Doch das Einzige, was er in der Anstaltsküche findet, sind zwei tiefgefrorene Reibekuchen, die er in seinem Zimmer auf der Heizung aufwärmt.
Wie Poschmann überhaupt auf die Idee kam, den Roman in einer Psychiatrie spielen zu lassen? Ein Anfangspunkt war der erste Satz aus der „Blechtrommel“, sagt sie. „Ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt“, heißt es bei Günther Grass - und seit Jahren trug sie diesen Satz mit sich herum. „Die Extreme des menschlichen Daseins treten in der Psychiatrie eben besonders zutage.“ Zu solchen großen Fragen passt dann auch wieder das extreme Format des „Kleinen Hei“. Ariane Lemme
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