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Kultur: Der Geschmack von Worten

Mit seiner Erzählung „Turksib“ hat Lutz Seiler den Bachmann-Preis gewonnen

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Der Garten kennt hier keine Grenzen. Kein Zaun, an dem das Grundstück endet. Das ungemähte Gras geht über in den Wald, der Wilhelmshorst umgibt. Nicht Garten, nicht Wald, irgendetwas dazwischen, je länger man schaut. Ein besonderer, ganz eigenwilliger Raum, wie die Sprache in der Literatur.

Mit Blick auf dieses Zwischenreich hat Lutz Seiler „Turksib“ geschrieben, ein „Auszug aus einem langen Prosatext“, wie es weiter heißt. Oben am Esstisch im Peter-Huchel-Haus, das der 44-jährige Lutz Seiler seit 1997 leitet und in dem er auch wohnt. Mit „Turksib“, 14 Seiten A4, ist er Ende Juni nach Österreich, nach Klagenfurt gefahren und hat sich dort der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises gestellt. Dieser dreitägige Lesemarathon, an dem jedes Jahr 18 Schriftsteller teilnehmen, ist berühmt-berüchtigt. Die Lesungen werden im österreichischen Fernsehen übertragen und auch die anschließende Einschätzung durch die Jury. Da wird gnadenlos geurteilt, die Kamera dabei immer das Gesicht des Schriftstellers im Blick. Es soll schon Tränen ob der vernichtenden Urteile gegeben haben.

Für Tränen gab es bei Lutz Seiler keinen Grund. So einig wie über seinen Beitrag waren sich die Juroren selten. Mit „Turksib“, der Erzählung einer Reise mit der Turkistanisch-Sibirischen Eisenbahn durch verstrahltes Gebiet und einer seltsam-berührenden Begegnung des Ich-Erzählers mit einem russischen Heizer, gewann Lutz Seiler den renommierten, mit 25 000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis. Zur Eröffnung der Villa Quandt am kommenden Sonntag wird er „Turksib“ in Potsdam lesen.

Bisher war Lutz Seiler vor allem als Lyriker bekannt. Sein Debüt „berührt/geführt“ erschien 1995 im kleinen Berliner Oberbaum Verlag und war nur einem kleinen Kreis bekannt. Doch das nicht ohne Wirkung. Sein zweiter Gedichtband „pech & blende“ erschien 2000 bei Suhrkamp, drei Jahre später folgte „vierzig kilometer nacht“. Zahlreiche Auszeichnungen hat er bis heute für seine Gedichtbände erhalten.

Lutz Seiler schafft Wahrnehmungsräume, die der Leser auf seinen Worten anfangs langsam und oft auch unsicher durchschreitet. Immer und immer wieder, bis die eigenen Schritte sicherer werden, die Räume sich immer mehr erschließen und Seilers Worte, vom vielen Wiederholen, einen eigenen Geschmack bekommen. „sicher ist, sie sind/geflogen ... kleine/vögel ziehn vorbei, aber grosse/erinnern sich: unseres blickes aus/dem fenster beim/ersten schnee, wie/man langsam, nickend herantritt durch/die nässe in den furchen, des/unter den tisch gefallenen/umsolieber“ (umsolieber aus „vierzig kilometer nacht“)

„Lyrik soll ein starkes Bild abschöpfen“, sagt Lutz Seiler. Im Gegensatz zur Prosa gehe es hierbei um die Konzentration auf die Abwesenheit. Mit wenigen Worten etwas schaffen, das dann immer raumgreifender wird. Das mehr ausdrückt, als das, was in den wenigen Worten stehen kann. Kein Zwischen-den-Zeilen-lesen, sondern ein Sich-Einlassen auf das Strahlen, das von diesen Worten ausgeht, stärker wird und schließlich seine unmissverständliche Spuren hinterlässt. Oder ganz einfach gesagt: Die Sprache muss berühren, muss ein Zwischenreich schaffen wie der Garten hinterm Huchel-Haus. Seilers Gedichte rühren dabei sehr tief.

Ein wenig absurd findet es Lutz Seiler schon, dass er nun seit zehn Jahren ausgerechnet das Haus des Dichters leitet, der ihn zum Schreiben gebracht hat: Peter Huchel. „An Zufall mag man dabei schon fast nicht mehr glauben.“ Als Kind hat er in seinem thüringischen Heimatdorf die üblichen Abenteuerromane gelesen. Dann folgte eine literaturlose Zeit. „Da waren für mich Mopeds, Mädchen und die Clique wichtiger“, sagt Lutz Seiler. Erst als er zur Armee kam, fand er den Weg zur Literatur zurück. Da war er 22 Jahre alt.

„Am Ortseingang von Merseburg, wo ich stationiert war, gab es eine kleine Leihbücherei der Leuna-Werke. Dort stand eine Kiste mit aussortierten Büchern.“ Hier fand Lutz Seiler ein Buch von Peter Huchel: „Gedichte“, Aufbau-Verlag, Berlin 1948. Mit diesen Gedichten begann seine Wiederentdeckung der Literatur, der Sprache, und gleichzeitig sein eigenes Schreiben. „Das erste was ich geschrieben haben, waren Skizzen, die sich an Kafka orientierten“, erinnert er sich. Diese las er einem seiner Zimmerkameraden vor, der damit aber nichts anfangen konnte. Doch davon ließ sich der „Spätling“, wie Lutz Seiler sich selbst nennt, nicht beirren. In der Lyrik fand er bald seine eigene Stimme. An der Prosa hatte er sich damals auch schon versucht. Doch die Zeit war noch nicht reif.

Vor drei Jahre erschien der Aufsatzband „Sonntags dachte ich an Gott“, in denen Lutz Seiler mit klarer und ungemein dichter Sprache zeigte, dass er mittlerweile auch erzählen kann. Brückentexte nennt er diese Aufsätze heute. „Turksib“ hatte er vor zwei Jahren begonnen. Den ersten Entwurf ließ er dann liegen, nahm ihn immer mal wieder vor, um „Textbausteine“ zu ergänzen. Als die wiederholte Anfrage kam, ob er in diesem Jahr nicht in Klagenfurt teilnehmen möchte, sagte er zu. So hatte er einen gewissen Druck, den Text so bis zum Wettbewerb zu schreiben und zu bearbeiten, dass er davon selbst vollkommen überzeugt war. Spätestens Anfang kommenden Jahres soll „Turksib“, so der vorläufige Arbeitstitel, als abgeschlossene Erzählung zusammen mit „Die Anrufung“ von 2005 bei Suhrkamp erscheinen. Im Herbst 2008 soll der erste Roman von Lutz Seiler erscheinen. Doch über „ungelegte Eier“ wolle er jetzt noch nicht reden.

Den Gedichten hat Lutz Seiler vorerst den Rücken gekehrt. Zwangsweise. Er hat die Erfahrung machen müssen, dass Prosa von ihm verlangt „auf der Baustelle zu bleiben“. Ein Gedicht kann längere Zeit liegen, um es dann zu überarbeiten. Doch eine Pause von der Prosa bedeute, dass sie sich entferne, der so schon geschaffene Wahrnehmungsraum sich wieder verschließe. „Ich habe da mein Lehrgeld zahlen müssen“, sagt Lutz Seiler. Er musste lernen, sich zu zwingen und die Zeit zum Schreiben zu finden. „Wenn ich Glück habe, habe ich Zeit“, sagt er und spricht damit auch die Arbeit im Huchel-Haus an, die regelmäßigen Veranstaltungen und das zehnjährige Jubiläum in diesem Jahr. Wenn Lutz Seiler die Zeit zum Schreiben hat und am Esstisch im oberen Stockwerk sitzt, gibt es aber immer wieder die Momente, in denen nichts passiert. Unruhig wird er davon nicht mehr, er hat das schon oft erlebt. Manchmal reicht dann schon ein Blick in den Garten, diesen besonderen, ganz eigenwilligen Raum.

Dirk Becker

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