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Von Heidi Jäger: Der graue Schleier der Soldatenbraut

Nele Jung spielt in Büchners „Woyzeck“ die Marie / Morgen ist am Hans Otto Theater Premiere

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Zeit, ihrer Marie schon vorher ins Gesicht zu schauen, blieb nicht. „Hier geht alles Schlag auf Schlag“, sagt Nele Jung. Also machte die vielbeschäftigte Schauspielerin erst auf der Konzeptionsprobe mit der Geliebten von „Woyzeck“ Bekanntschaft. Anders als bei Lady Macbeth, ihrer ersten Rolle am Hans Otto Theater, um die Nele Jung ihren ganzen ersten Potsdamer Sommer die Gedanken kreisen ließ. Um dann bei den Proben festzustellen, dass so eine Lady doch sehr unterschiedlich gesehen werden kann. Was spätestens im unsanften Türknallen der Zuschauer nachdrücklich Ausdruck fand.

Die Schwierigkeit bei „Woyzeck“, dem unvollendet gebliebenen Werk des im Alter von 23 Jahren verstorbenen Georg Büchners, war anderer Natur. Aus vier Fragmenten musste das Team eine eigene Spielfassung über den einfachen Soldaten Woyzeck, der den Schikanen eines Hauptmanns ausgesetzt ist und von seiner Frau Marie betrogen wird, finden. Trotz der Tragik des Stoffes, die im Mord Woyzecks an Marie gipfelt, hatten die Schauspieler anfangs auch viel zu lachen. „Ein fließendes lautes Vorlesen war auf der ersten Probe kaum möglich. Oft ist der Text abgehackt, gibt es nur Wortfetzen. Im Textbuch steht dann in Klammern ,nicht lesbar’.“ Viel Raum also für Dramaturgie, Regie und Protagonisten, den Text mit eigener Fantasie zu füllen. „Ich hatte auch etwas Angst davor“, gesteht Nele Junge, und freut sich um so mehr über die große Wachheit, mit der sie gemeinsam etwas entstehen lassen. „Jeden Tag flog etwas davon, anderes kam dazu. Auch die Musik und Kostüme verändern etwas in dir. Und natürlich die langen Haare, die ich als Marie trage“, sagt Nele Jung und schüttelt ihren frechen Bubikopf.

Mit ihren erst 25 Jahren kann die Schauspielerin schon auf eine enorme Rollenvielfalt zurückblicken. Nicht nur in ihren wenigen Potsdamer Monaten spielte sie bereits beachtliche Charaktere, wie die Claire in „Weiß wie das Licht“, die Erna in „Das weite Land“ oder eben Lady Macbeth und die Marie: Allesamt leidenschaftliche, zerrissene Frauenfiguren.

Nele Jung packte schon mit 16 Jahren die Aufnahmeprüfung an der Theaterhochschule Leipzig, obwohl sie eigentlich gar nicht Schauspielerin werden wollte. Stewardess oder Kriminalistin oder als Sängerin entdeckt zu werden – das waren ihre Träume. Das Theaterspiel sollte ihr Hobby bleiben, so wie sie es in der Arbeitsgemeinschaft der Schule genoss. Schließlich standen schon Vater und Schwester auf der Bühne und auch die Mutter war als Dramaturgin dem Theater verfallen. Doch dann hörte Nele in der 9. Klasse von einem Talentetest und die junge Dresdnerin fuhr spontan nach Leipzig. Dieser Test entpuppte sich als reguläres Vorsprechen. „Natürlich nahm man mich als ,die Kleene’ nicht ganz ernst und so kam ich erst ganz zum Schluss an die Reihe. Doch gerade bei diesem Eignungstest zündete etwas in mir. Es war ein riesiger Glücksmoment.“ Und dieser Funke sprang offensichtlich auf die Jury über. Denn die „Kleene“ schaffte es auf Anhieb. Sie beendete noch die 10. Klasse und begann dann sofort ohne Abitur das praxisnahe Studium: erst in Leipzig, dann im Studio des Staatsschauspiels Dresden.

„Noch im Schutz der Schule durfte ich schon sehr schöne Figuren spielen“, um dann mit der Wahnsinnsrolle der „Jungfrau von Orleans“ ihr Debüt als Absolventin zu geben. Es war nicht unbedingt der von ihr erhoffte Start, obwohl sie alles hineinschmiss, was sie bereits aufzubieten hatte. Aber mitunter gibt es Widrigkeiten, die man als Schauspieler nicht beeinflussen kann. Sie riss jedenfalls das Schwert im Laufe der Vorstellungen an sich und war im Nachhinein durchaus stolz auf sich und ihre Truppe. So wie sie inzwischen auch ihre Lady Macbeth durchaus mag und gerne spielt, nachdem sie die Proben oft schmerzhaft durchlitt und und sich vor der Premiere zweifelnd fragte: „Und damit sollst du dich als Erstes präsentieren? Ich habe scheinbar immer so komische Starts“, sagt sie lachend.

Inzwischen ist sie durchaus selbstbewusster geworden: Vertraute sie anfangs noch restlos dem Regisseur, sagt sie heute auch mal: ,Stopp. So sehe ich das überhaupt nicht’. Man muss sich einlassen können auf die Ideen der anderen, aber auch das, was man selbst für richtig erachtet, verfolgen.“

Bevor ihr 2009 mit dem Einzug eines neuen Intendanten wie den meisten ihrer Kollegen gekündigt wurde, erlebte Nele Jung in Dresden noch einen berührenden Abgang: als sie gemeinsam mit ihrem Vater Lars Jung in „Maria Magdalena“ auf der Bühne stand. „Es war eine so emotionale Szene, als mein Vater vor mir kniete. Das wäre mit anderen Kollegen nicht so intensiv gewesen. Anfangs hatten wir durchaus auch Bedenken, ob diese familiäre ,Verstrickung’ gut sei, aber wir fanden es auch aufregend. Und nach fünf Jahren gemeinsamen Engagements durfte es auch mal sein.“ Ansonsten machen die Jungs privat keinen Hype um das Theater. „Aber mein Vater ist mir schon der wichtigste Kritiker. Und bevor er nicht sagt, es ist gut, atme ich nicht auf.“

Nach ihrer Kündigung war ihr schon etwas bange, zumal sie auf ihre deutschlandweiten Bewerbungen nicht einmal zum Vorsprechen eingeladen wurde. „Drei Monate hatte ich gewartet, bis dann eine Einladung von Tobias Wellemeyer kam. Inzwischen schmiedete ich schon andere Pläne, dachte an eigene Programme und auch daran, dieWelt zu erkunden.“ Denn so spannend das frühe Berufsleben und schnelle Erwachsenwerden gewesen sei, „es gibt auch Momente, wo man denkt, etwas verpasst zu haben.“

Jetzt freut sich Nele Jung aber erst einmal, in einem etwas kleineren, überschaubaren Ensemble in Potsdam ihren Platz gefunden zu haben. Und nach der morgigen „Woyzeck“-Premiere hat sie auch mal eine kurze Zeit zum Durchatmen.

Sie freut sich, wie im vergangenen Sommer auf das Rad zu steigen, Potsdam zu durchqueren, in dem sie sich ein bisschen wie zu Hause in Dresden fühlt, auch wenn ihr bislang die Zeit fehlte, Kontakte außerhalb des Theaters zu knüpfen. Im Moment beschränkt sich noch alles auf die Arbeit, außer wenn sie bei „ihrem“ Italiener in Babelsberg um die Ecke sitzt, sich mal einen Film anschaut oder einfach ihren Tagträumen nachhängt – obwohl sie sonst Realistin ist. „Aber ich würde gern mal in die Hexenkugel schauen und sehen, was in ein paar Jahren kommt.“ Jetzt hat sie erst einmal einen Zwei-Jahres-Vertrag am Hans Otto Theater und weiß ganz genau, dass zu ihrem Glück nicht allein die Bühne gehört. Eine eigene Familie zu gründen – auch dafür muss irgendwann Zeit sein.

Im Moment ist die „Hexenkugel“ getrübt von dem grauen Schleier der Soldatenbraut, unter dem die Liebe erdolcht wird. Doch hinter dem Schatten von Woyzecks frohlockt das wahre Leben. Und das hat mit Nele Jung sicher noch viel vor.

Premiere morgen um 19.30 Uhr in der Reithalle.

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