Kultur: Der harmlose Held der Welt
Christian Bergs „Pinocchio“-Musical hatte im Nikolaisaal Deutschland-Premiere
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Christian Bergs „Pinocchio“-Musical hatte im Nikolaisaal Deutschland-Premiere Von Dagmar Schnürer Im Foyer eine aufgeregte und festliche Stimmung, übertönt von der Werbespotschleife des Hauptsponsors, die an eine Wand gestrahlt wird und in deren Licht die Kinder Schattenspiele machen. Deutschlandpremiere des Familienmusicals „Pinocchio“ im ausverkauften Nikolaisaal. Von Anfang an sind die Kinder voll dabei, jubeln, als es im Zuschauerraum endlich dunkel wird. Und Christian Berg, zunächst als Vater, der schnell nach Hause muss, um seiner Tochter „Pinocchio“ als Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, beantwortet laut rufend alle Fragen. Der Vater setzt sich an das Bett seiner Tochter, schlägt das Buch auf – und die Geschichte beginnt. Das weltweit erfolgreichste Kinderbuch des Italieners Carlo Collodi (1826-1890) hat Christian Berg umgeschrieben und mit seinem Ensemble in Szene gesetzt. Er selbst spielt Pinocchio, die von Geppetto (Ralph Aschhoff) geschnitzte lebendige Holzpuppe, die einige Abenteuer durchmachen muss, bevor sie zu einem richtigen Jungen mit normaler Nase werden darf. Bei Christian Berg gibt es die Figur der Fee Antonella (Miriam Dusza), die zunächst dem Holz mit Glimmerstaub und blinkendem Stab Leben einhaucht. Und die später Pinocchio aus misslichen Lagen mühelos und mit scherzender Strenge unter dem Dauerlächeln befreit. Von der eingängigen Musik, die Konstantin Wecker geschrieben hat, durfte Antonella die süßesten Melodien singen. Die mitreißendsten Lieder sangen im Duett der betrügerisch-schmeichlerische Fuchs (witzig gewunden gespielt von Katrin Wölfle) und der leicht unterbelichtete und jeden Betrug mitmachende Kater (wunderschön ausgefüllt von Miriam Lotz, der es gelang, die Dummheit witzig, aber nicht lächerlich darzustellen). Die Tanzszenen dieser beiden haben den kleinen Jungen hoch oben im Rang so beeindruckt, dass er einfach mittanzte, um Synchronität bemüht. Das Publikum durfte – nicht nur, indem es rhythmisch klatschte – teilnehmen. Ein Vater wurde auf die Bühne gebeten und las Pinocchios beschwerliche Wanderung zum Meer, die der Saal mit Geräuschen begleitete. Richtig gut klangen der Regen, der Wasserfall, der Sturm und das Meeresrauschen. Als Pinocchio, wegen seiner Fehltritte in Angst vor seinem Vater, fragte: „Wer kriegt denn von euch allen Kloppe?“, griffen einige Eltern schnell nach den hochgereckten Händen ihrer Kinder. Und am Ende fragte Geppetto: „Hats euch gefallen?“ Ein langes „Ja!“ brandete zurück. „Sehr gut!“, rief der kleine Junge auf dem Rang, zu dem keiner von der Bühne jemals hochgespielt hatte und der trotzdem grenzenlos begeistert war. Langer Applaus, auch für Tanja Schünemann und ihre prächtigen an die Commedia dell“arte angelehnten Kostüme. Sowie für Gertie Trautvetter und Ulli Wolf, die das praktikable Bühnenbild mit seiner angedeuteten italienischen Kleinstadt hergestellt hatten. Und für Konstantin Wecker, der mit dem Ensemble noch zwei Zugaben sang. Eine zwar höchst unterhaltende, aber harmlose Fassung des „Pinocchio“ hat Christian Berg auf die Bühne gebracht. Pinocchio als unankratzbarer „Held der Welt“. Ein Wal, dessen Schlund mit „Ki-Ka-Kitzelig“ zu entkommen ist. Eine Vater-Sohn-Geschichte, die nicht, wie bei Collodi, mit einem heimtückischen Fußtritt des Sohnes beginnt, sondern von Anfang bis Ende ein Ringelreihen der Liebe ist. Von dem Potential des Pinocchios, das Federico Fellini einmal benannte, war nichts zu spüren: „Ein Buch, das nie aufhört, uns zu nähren, uns zum Staunen zu bringen, uns zu trösten: ein kleines, so vollkommenes Universum mit seinen Gesetzen, die wir nie mehr verleugnen werden.“ Der „Pinocchio“ ist noch bis zum 23. November 2003 im Berliner Tempodrom zu sehen.
Dagmar Schnürer
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