Botho Strauß hat als Theaterautor das Spielen vor allem für andere erdacht. Aber wie er seine Kindheit mit sich genommen und als Speicher von Vorbildern und Inbildern sich bewahrt und anverwandelt hat, das legt er erstmals in diesem Herbst ganz offen. Nur 96 Seiten misst das jüngste Bändchen im Hanser Verlag, das den Titel „Herkunft“ trägt. Heute nun feiert Strauß seinen 70. Geburtstag. Er, der nach seinen Anfängen als Kritiker und Redakteur der Zeitschrift „Theater heute“ zu Beginn der 1970er- Jahre nach Berlin als Dramaturg an Peter Steins Schaubühne ging und dann freier Schriftsteller wurde, Strauß lebt seit Längerem die meiste Zeit des Jahres in seinem geräumigen Landhausrefugium in der Uckermark. Gibt kaum Interviews, meidet öffentliche Auftritte, ist die feine, diskrete Zurückhaltung in Person.
Das vielbesprochene „Herkunft“-Büchlein, quasi des Autors eigenes Geburtstagspräsent, wird, abgesehen von einigen anrührenden Passagen über die geliebte, stille, ins Pflegeheim abgeschiedene Mutter, vornehmlich als Strauß’ Erzählung vom Vater gelesen. Der einzige Sohn Botho wurde 1944 in der Domstadt Naumburg geboren, doch als der Vater nach 1945 in der frühen DDR als Mitbesitzer eines pharmazeutischen Unternehmens enteignet und drangsaliert wurde, nahm er Frau und Kind in den Westen. Die bewusst erlebte Herkunftsstadt ist nun Bad Ems, wo auch schon Wagner oder Dostojewski gekurt hatten. Der seit einer Verletzung aus dem Ersten Weltkrieg einäugige Vater ist dort ein strenger, doch liebevoller Bildungsbürger. Der Sohn empfindet sich darum im Rückblick auf die Studentenbewegung vor und nach 1968 nicht als „fröhlicher Waisenknabe der Rebellion“. Er ist kein Vatermörder, wird kein Herkunftsverleugner – obwohl er als junger Theaterkritiker und Schaubühnendramaturg zumindest kurzzeitig, kurzzeitgeistig sehr wohl den antibürgerlichen, salonsozialistischen Habitus gepflegt hat.
Davon ist in dem Buch nun nicht die Rede. Es deutet auch die spätere eigene Karriere allenfalls an. „Herkunft“ zeigt in der haarscharfen Reflexion dessen, was Gedächtnis vermag (oder bewusst unbewusst verbrämt), vielmehr die Fundamente und Fermente der Straußschen Literatur. Im Geisterhaus der Eltern und seiner Kindertage ist der Autor auf der Suche nach der nie ganz verlorenen Zeit und zitiert nicht Proust, sondern den heute fast vergessenen Dichter Wilhelm Lehmann: „Ich bin die Dauer des Vorbeis.“
Mit Stücken wie der „Trilogie des Wiedersehens“, mit „Groß und klein“, „Kalldewey, Farce“, „Die Zeit und das Zimmer“ wurde Botho Strauß ab Anfang der 70er-Jahre neben Heiner Müller und Peter Handke zum bedeutendsten deutschsprachigen Dramatiker. Zum Seismografen seiner Zeit – der im Kobold namens Kalldewey wohl schon das Aidsvirus erahnte. Der 1991 im „Schlusschor“ früh die Geister und auch Gespenster der deutschen Wiedervereinigung tanzen sah.
Sein Essay-Band „Paare Passanten“ von 1984 ist bis heute die poetisch schärfste Mentalitätsgeschichte der alten Bundesrepublik. In „Herkunft“ ist der Dichter in der Leichtigkeit, die so schwer zu machen ist, wieder wunderbar luzide bei sich. Diesseits und jenseits der „Sprachgitter“ (von Paul Celan), die er sein Gefängnis nennt. Doch ist die Literatur mit ihrer notwendigen „Bestürzung“ sein und aller seiner Leser Reich der Freiheit. Peter von Becker
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