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Kultur: Der Kniefall

Verstörte Funktionäre, ungläubige Redakteure. Erinnerungen an den Mauerfall in Potsdam. Von Klaus Büstrin

Stand:

Am Abend des 9. November 1989 gegen 19.30 Uhr wartete ich auf die Straßenbahn am Platz der Einheit, um mich mit Freunden zu treffen. Auf den Straßen war um diese Zeit kaum noch Verkehr. In Potsdam war das nicht ungewöhnlich. Denn abends wurden auch hier die Bürgersteige hochgeklappt. Viele Potsdamer saßen bereits vor dem Fernseher, um die Extra-Nachrichten intensiv zu verfolgen. Unterwegs in der Straßenbahn fragte mich ein Bekannter, ob ich gehört habe, dass die Mauer geöffnet werden soll, dass alle DDR-Bürger in den Westen reisen dürfen, ohne ein Visum zu beantragen. Ab sofort. Ungläubig schaute ich ihn an. Zwar haben Protestaktionen in der gesamten DDR und die Entmachtung Erich Honeckers in den Tagen zuvor viel Hoffnung gebracht. Aber eine Maueröffnung ohne Vorankündigung? Die Freunde in der Waldstadt waren bereits durch Nachrichtensendungen im Fernsehen informiert. Der Fernseher wurde an diesem Abend nicht ausgeschaltet. Die historischen Momente des 9. November wollten wir nicht verpassen. Wenigstens auf dem Bildschirm. Wir sahen noch einmal Schabowski auf der internationalen Pressekonferenz, wie er auf die Frage nach dem Beginn der neuen Reiseregelungen radebrechte: „Das gilt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.“

Am nächsten Tag kamen die Redakteure und Mitarbeiter der „Märkischen Union“ (MU), einer Tageszeitung der Ost-CDU, aus dem Staunen über die Öffnung der Mauer nicht heraus. Da das Blatt immer einen Tag mit aktuellen Meldungen hinterherhinkte, waren wir verwundert, dass bereits am 10. November ein kleiner Text über die damalige Lage noch kurz vor Redaktionsschluss von ADN, der einzigen DDR-Nachrichtenagentur, verbreitet wurde. Auch die MU konnte ihn veröffentlichen. Es hieß darin, dass für einen Besuch in Westberlin oder Westdeutschland ein Stempel im Personalausweis reichen würde, zu bekommen bei der Volkspolizei. Also schlossen wir für die Vormittagsstunden unsere Redaktionsräume ab, die sich im Haus des CDU-Bezirksvorstandes Potsdam befanden, und machten uns zur Dienststelle der Volkspolizei in der Bauhofstraße auf. Ein dichtes Gedränge erwartete uns. Menschenschlangen, die bedeutend länger waren als jene vor dem Konsum oder der HO (Handelsorganisation), wenn mal wieder Bananen im Angebot waren. Und so viel Entspanntheit und Fröhlichkeit gab es ansonsten an diesem Ort für „Besucher“ und „Bittsteller“ wohl kaum. Man hat ihn eher gemieden. In aller Eile verpassten die Polizisten, die im Hof provisorisch Tische aufgestellt hatten, den Personalausweisen einen Stempel. Er berechtigte zum Aus- und Einreisen. Man wollte sich die trotzig-heiteren Bürger – manche stießen mit Krimsekt an – schnell vom Halse schaffen, wenigstens hier von der Dienststelle.

In der Redaktion angekommen, erklärte uns eine Kollegin, sie könne heute nicht arbeiten. Unbedingt müsse sie nach Westberlin fahren. Auf diesen Moment habe sie 29 Jahre gewartet. Schnell packte sie ihre Sachen und machte sich mit ihrem Auto auf, um das das quirlige Gedränge Westberlins zu genießen. Die anderen Mitarbeiter verarbeiteten die unzähligen Telefonate, die aktuellen Meldungen vom Fernschreiber, die Interviews mit Potsdamern, die Reportagen vom Geschehen dieses Tages. Noch unfassbar schienen sie für die meisten Potsdamer gewesen zu sein. Doch sie gehörten zu ihren glücklichsten Stunden.

Außer in den Redaktionsräumen herrschte im CDU-Haus jedoch eine gedrückte Stimmung. Die Funktionäre verbarrikadierten sich zu Beratungen. Nur dem Chef-Propagandisten begegneten wir im Treppenhaus. Im Auftrag des Vorstandes erklärte er, dass man mit der Berichterstattung der Redakteure nicht einverstanden sei, denn sie würden „unsere schöne DDR so kaputt machen“. Wir erklärten ihm, wenn er die „Märkische Union“ mit den Mantelseiten der „Union“, die in Dresden hergestellt wurden, aufmerksam gelesen hätte, hätte er gewusst, dass die Perestroika schon seit Monaten in der Zeitung anwesend gewesen war.

Zur Mittagsstunde trat unangekündigt Friedrich Kind, Vorsitzender der CDU des Bezirkes Potsdam und Staatsratsmitglied, in unsere Redaktionsräume. Vor Ute Samtleben, die damals Redakteurin der Zeitung war, und vor mir ging er ganz unverhofft in die Knie, verstört, die Tränen liefen ihm übers Gesicht. Etwas Tragikomisches hatte dieser Auftritt an sich. Inständig bat er uns, wenn wir ihn zwar in Artikeln verurteilen würden, sollten wir aber bitte seine Frau in Ruhe lassen. Auf diese Idee waren wir gar nicht gekommen. Pure Angst bemächtigte sich diesem Mann der Macht, der andere Menschen Angst einflößte, der vor den SED-Oberen bereitwillig und unkritisch seinen Rücken beugte, weil er vor ihnen Angst hatte.

Als 1988 die SED-Zeitung „Märkische Volksstimme“ meldete, dass es beschlossene Sache sei, dass auf dem Alten Markt in Potsdam ein neues Theater gebaut werden sollte, waren wir MU-Redakteure verärgert, dass wir darüber nur über die Veröffentlichung in dem SED-Blatt erfuhren. Das teilte ich am nächsten Tag in einem Beitrag ungeschminkt mit. Die Gleichbehandlung der Presse sei wieder auf der Strecke geblieben. Das brachte natürlich die Bonzen in der SED-Führung der Stadt auf die Palme, nicht anders die der CDU. Und vor allem Friedrich Kind. Ich musste anschließend Potsdam verlassen und in der Redaktion im fernen Karl-Marx-Stadt arbeiten.

Ute Samtleben und ich teilten Herrn Kind an diesem 10. November 1989 mit, dass wir eine kritische Aufarbeitung seines Wirkens nicht verhindern können und wollen. An Rache haben wir in keinem Moment gedacht, doch an Offenheit und Gerechtigkeit. Wir wussten an diesem Tag noch gar nicht, wie sich die Lage in der DDR entwickeln würde. Aber Friedrich Kind muss es bereits geahnt haben, dass seine Macht nun verloren war und der Staat, den er so geliebt hatte, bald Geschichte sein würde. Doch lange konnten wir uns mit dem Kniefall des Herrn Kind nicht beschäftigen, denn die Ereignisse überschlugen sich.

Klaus Büstrin war zwei Jahrzehnte Kulturchef der Potsdamer Neuesten Nachrichten. Zuvor arbeitete er für die „Märkische Union“ in Potsdam und Dresden.

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