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Kultur: Der lange Weg aus dem Trauma Lesung aus Horst Bieneks Fragment „Workuta“

21 Jahre alt ist Horst Bienek, als er am 8. November 1951 in seiner Potsdamer Wohnung, im Haus Nummer 11 der Russischen Kolonie Alexandrowka, verhaftet wird.

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21 Jahre alt ist Horst Bienek, als er am 8. November 1951 in seiner Potsdamer Wohnung, im Haus Nummer 11 der Russischen Kolonie Alexandrowka, verhaftet wird. Da ist er gerade Volontär bei der Potsdamer Tagespost, hat in der von Peter Huchel herausgegebenen Zeitschrift „Sinn und Form“ seine erste Lyrik veröffentlicht und ist in die Meisterklasse von Bertolt Brecht am Berliner Ensemble aufgenommen worden. Die Tat, welcher er bezichtigt wird: Er soll ein ganz normales Potsdamer Telefonbuch an seinen Freund Günter Grell aus Potsdam überbracht haben – der hatte zuvor eine SED-Politkarriere begonnen, war dann aber nach Westberlin übergesiedelt und seither im Verdacht, für die CIA zu arbeiten. Monatelang sitzt Bienek im NKWD-Gefängnis „Lindenstraße“ in Einzelhaft und wird fast jede Nacht verhört. Doch weder wird er viel gefragt, noch darf er selber etwas sagen. Es ist ein böser Psychoterror, den er durchmachen muss, solange, bis er zusammenbricht und zugibt, ein Dissident zu sein.

Geradezu absurd muten diese Szenen an. Erst kurz vor seinem Tod hat Bienek damit begonnen, seine eigenen Erfahrungen als Gefangener aufzuzeichnen. Knapp 70 Seiten hat er noch geschafft, bevor er im Dezember 1990 starb. Sein Freund und langjähriger Lektor, der Verleger Michael Krüger, hat dieses Fragment nur wenig bearbeitet und nun unter dem Titel „Workuta“ herausgegeben. Im Rahmen der Ausstellung „Im Zwischenreich“ stellte er es am Mittwochabend in der Stadt- und Landesbibliothek vor.

Doch so absurd Bieneks Beschreibungen heute klingen mögen – in der Lager-Literatur fänden sich solche Passagen sehr häufig, so Krüger. Im April 1952 wird Bienek schließlich wegen Spionage zu 20 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Ein Urteil, das von vornherein feststand und das Krüger noch heute fassungslos macht. In einfachen Sätzen und mit einer kristallklaren Sprache beschreibt Bienek in seinen „Workuta“-Aufzeichnungen den Transport in Viehwaggons von Berlin bis weit in die Sowjetunion hinein – wohin es geht, wird ihm aber erst allmählich klar.

Das berüchtigte Butyrka-Gefängnis, wo die Gefangenen gesammelt und dann in die Arbeitslager verteilt werden, ist die erste längere Reisestation. Häftlinge verschiedener Nationalitäten werden dort tagelang in 80-Mann-Zellen gepfercht. „Butyrka ist ein Querschnitt durch die Sowjetunion und aller der von Stalins Geheimpolizei NKWD beherrschten Länder“, schreibt Bienek. Bald darauf wird er nach Workuta gebracht, ein sibirisches Arbeitslager nördlich des Polarkreises. Über drei Jahre muss Bienek dort als Kohlenhauer schuften, ehe er 1955 durch Amnestie in die Bundesrepublik entlassen und bald zu einer der Zentralgestalten des deutschen Kulturlebens wird.

Heute verbinden viele mit Bienek vor allem seine „Gleiwitzer Tetralogie“ und den Erfolgsroman „Die Zelle“, worin er die Isolation eines politischen Gefangenen literarisiert – ohne jedoch konkret Persönliches mit einfließen zu lassen. Von seiner Zeit in Workuta hat er erst sehr spät und nur zögernd erzählt, mit Nachfragen zu diesem Thema habe man ihn zur Weißglut bringen können, so Krüger. Es hat Jahrzehnte gedauert, ehe Horst Bienek die Sprache fand, dieses lange verdrängte Trauma endlich sagbar zu machen. Um so schlimmer, dass ihm die Zeit nicht mehr reichte, noch mehr aufzuschreiben. Daniel Flügel

Daniel Flügel

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